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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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recht.“ Er seufzte und richtete nach seiner Gewohnheit die Augen zur Decke.
    Tatsächlich schlief er schon bald. Ich dagegen blieb lange Zeit wach, und meistens blickte ich zu dem Mädchen hinüber. Es war ein merkwürdiges Gefühl, wenn unsere Blicke sich trafen, denn aus meiner Heimat war ich gewohnt, dass eine Frau die Augen niederschlug, wenn ein fremder Mann sie anblickte. Sie dagegen blinzelte nicht einmal. Ihre Augen waren groß und dunkel, und der Widerschein des Feuers brach sich darin in kleinen flammenden Blitzen. Davon abgesehen jedoch, waren ihre Züge nicht dazu angetan, Furcht oder gar Abscheu zu erregen. Im Gegenteil: Sie hatte ein ebenmäßig gebildetes, rundes Gesicht mit hoher Stirn, zart geschwungener Nase und schönen Lippen, wenngleich Letztere, vermutlich vom Mangel an Nahrung und Wasser, rauh und aufgesprungen waren. Ihre Haut war sehr hell, und über Wangen und Nasenrücken zog sich ein schmales Band blasser Sommersprossen, die einen eigentümlichen Kontrast zum tiefen Schwarz von Haar und Brauen bildeten. Ihr Haar wurde von einem Stirnband gehalten, an welchem über beiden Schläfen kupferne Ringe befestigt waren – ein eigentümlicher Schmuck, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Gekleidet war sie in ein erdbraunes Gewand, das schmutzig und zerschlissen von dem tagelangen Aufenthalt in den Wäldern war. Um den Hals trug sie ein hölzernes Figürchen an einer Schnur, vermutlich ein heidnischer Götze.
    Schließlich brannte das Feuer nieder, so dass meine Betrachtungen einstweilen zum Ende kamen. Im letzten Glimmen der Funken meinte ich aber noch immer, das Gesicht des Mädchens wie einen hellen Schemen und ihre Augen als dunkel glühende Punkte wahrnehmen zu können. Irgendwann fiel ich in Schlaf, doch das schemenhafte Gesicht flocht sich durch meine Träume, blickte aus dem Schatten finsterer Bäume hervor, spiegelte sich in dunklem Wasser oder erschien mir in den Gestalten grauer Wolken, die rasch über den Himmel zogen.
    Als ich erwachte, war es bereits heller Tag. Licht fiel durch das Rauchloch auf den gestampften Lehmboden. Geweckt hatte mich ein äußerst anregender Geruch nach gebratenem Fleisch, bei dem sich mein Magen vor Verlangen beutelte. Als ich mich verwirrt aufsetzte, erkannte ich Hartmann, der von seiner Bahre zum Ofen gerobbt war und einen Holzspieß in die Glut hielt, auf dem ein Hasenschenkel stak. Am Boden vor dem Ofen lag das Tier, fachmännisch ausgeweidet und bereits um einige Muskelstränge ärmer.
    „Odo!“, rief Hartmann, der das verletzte Bein steif von sich gestreckt hatte. „Komm, es gibt etwas zu essen!“
    Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und gesellte mich zu ihm.
    „Wo ist das Mädchen?“, fragte ich erstaunt.
    Im selben Moment kam sie zur Tür herein, den Bogen in der Hand und Hartmanns Schwert im Gürtel, um sich wie am Abend zuvor auf eine der Wandbänke zu setzen.
    „Ich weiß nicht, was sie draußen getan hat“, sagte Hartmann. „Vielleicht hält sie Ausschau nach ihren Landsleuten.“
    „Und der Hase?“
    „Sie brachte ihn herein, als ich eben aufgewacht war, und schob mir den Dolch vor die Füße – also habe ich ihn zerlegt.“ Er zog seinen Spieß aus der Glut und hielt dem Mädchen den gerösteten Schenkel hin. Sie nahm ihn mit den äußersten Fingerspitzen und führte ihn zum Mund, ohne Hartmann aus den Augen zu lassen.
    „Offenbar hattest du recht“, sagte mein Herr. „Unsere grimmige kleine Heidin ist eine freundliche Gastgeberin.“
    Er schnitt weitere Stücke aus dem Nackenfleisch des Hasen und steckte sie auf seinen Bratspieß. Eine Zeitlang aßen wir schweigend, doch mit großem Appetit, während die junge Frau zögerlich ihre Keule benagte.
    „Wir müssen mit ihr reden“, sagte ich schließlich zu Hartmann. „Wenn sie unseren Tod wollte, hätte es genügt, uns hier allein zu lassen – doch sie ist geblieben und teilt ihre Jagdbeute mit uns. Vielleicht wird sie uns sogar den Rückweg zum großen See zeigen.“
    „Aber wie willst du sie darum bitten, wo sie doch kein Wort versteht, das wir sprechen?“
    „Wir müssen eben versuchen, uns mit ihr zu verständigen“, überlegte ich. „Vielleicht sollten wir damit beginnen, uns vorzustellen.“
    Hartmann lachte wie über einen gelungenen Scherz. „Wenn du meinst.“
    Ich wandte mich dem Mädchen zu, deutete auf meine Brust und sagte deutlich: „Odo.“
    Ihre Brauen verengten sich forschend.
    „Odo“, wiederholte ich. „O-do.“
    Ihre Lippen bewegten sich, ohne dass

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