Die Tränen der Vila
Hartmann sein Schwert.
„Bleib hier“, rief er mir zu, sprang mit einem Schrei aus der Deckung und stürmte den Hang hinauf.
Es waren kaum zwanzig Schritte, die er zu überwinden hatte – zu wenig Zeit für den Schützen, um einen neuen Pfeil aufzulegen und zu zielen. Doch auch für diesen Fall hatte unser Feind vorgesorgt, denn er ergriff augenblicklich die Flucht, so dass ich, hinter dem Schild hervorspähend, erneut seine schattenhafte Gestalt ausmachen konnte. Bevor er jedoch davonhuschte, versetzte er dem Baumstamm, der ihm als Deckung gedient hatte, einen kräftigen Tritt – und nun rollte der Stamm den abschüssigen Hang herab, genau auf meinen Herrn zu.
Hartmann sah ihn kommen, wollte ausweichen, stolperte jedoch über eine Baumwurzel. Im nächsten Moment prallte der schwere Baumstamm gegen seine Beine, warf ihn zu Boden und rutschte fast bis zum Brückensteg herab, wo er keine drei Ellen vor meinen Füßen liegen blieb.
Hartmann schrie jämmerlich, was mich bewog, den Schild zu Boden zu werfen und zu ihm zu eilen. Er lag am Boden, unfähig aufzustehen, und sein linker Knöchel war in unnatürlichem Winkel verdreht.
„Verdammter Wende!“, schrie er, „Gottverdammter, neunmal verfluchter ...“
Ich ließ mich an seiner Seite nieder und fasste nach dem verletzten Bein, doch schon bei der leichtesten Berührung brüllte Hartmann vor Schmerzen.
„Nein! Lass mich! Hol den Schild!“
Ich rannte zurück, brachte den Schild herbei und stellte ihn längs auf den Boden, so dass wir gegen die Böschung gedeckt waren.
„Ist er fort?“, stieß Hartmann gepresst hervor.
„Ich glaube ja“, sagte ich zittrig vor Bestürzung. „Ich sah ihn in den Wald flüchten.“
Hartmann versuchte aufzustehen, stützte sich auf den Ellbogen hoch, schrie und brach erneut zusammen. „Es hat keinen Zweck“, keuchte er. „Ich bin verloren.“
„Nein!“, widersprach ich, von dem jähen Wunsch ergriffen, ihm Hoffnung zuzusprechen. „Nicht, solange ich am Leben bin!“
„Was willst du denn tun?“, knirschte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Ich kann nicht laufen. Das Beste wäre, wenn du mich hier zurückließest.“
„Nichts dergleichen werde ich tun“, sagte ich fest. „Ich werde Euch tragen, wenn es sein muss.“
Er blickte mich ungeachtet seiner Schmerzen erstaunt an – und ich fragte mich, warum ich bereit war, jede Mühe für seine Rettung auf mich zu nehmen, als wäre er nicht der Mörder meines Vaters, sondern ein liebgewordener Freund. Doch konnte ich den Gedanken nicht ertragen, allein in der Wildnis umherzuirren, während er zurückblieb, den Raubtieren ausgeliefert, die bei Einbruch der Dunkelheit auf Jagd gehen würden. Noch am Vortag hätte ich bei dieser Vorstellung eine grausame Befriedigung empfunden. Als ich jedoch in sein Gesicht blickte, das nun von Schmerz und Verzweiflung gezeichnet war, wusste ich, dass ich ihn nicht verlassen würde.
Kurzerhand tat ich das Erstbeste, was mir in Anbetracht der Umstände einfiel: Ich legte den hölzernen Schild auf den Boden, der passenderweise die Länge eines ausgewachsenen Mannes besaß, und nötigte Hartmann, sich daraufzulegen. Mit meiner Hilfe und mehreren Anläufen gelang es ihm schließlich, so dass er rücklings auf dem Schild wie auf einer Bahre ruhte. Dann entledigte ich mich meines Gürtels, um ihn unter Hartmanns Achseln hindurchzuführen und ihn derart an das Holz zu binden, dass er nicht abrutschen konnte. Schließlich zog ich meine Stoffbeinlinge aus, knotete je einen rechts und links ans Kopfende der Bahre und zog die Enden wie Tragseile über meine Schultern. Auf diese Weise konnte ich nun – wenngleich unter großer Anstrengung – vorwärtsgehen und die Bahre hinter mir herziehen, wobei sich das Kopfende vom Boden hob, während das Fußende durchs Gras schleifte.
Die Überwindung der Böschung war mit dieser Traglast schwierig, und ich triefte vor Schweiß, als ich oben ankam. Es war mir klar, dass wir uns auf diese Weise nur sehr langsam fortbewegen konnten. Zudem besaßen wir nun keinerlei Schutz mehr, und wenn der Bogenschütze sich erneut anpirschte, stand zu erwarten, dass er auf mich zielte – den letzten Mann, der noch aufrecht stand. Dennoch kam es nicht in Frage, meine Traglast quer durch Unterholz oder dichtes Gebüsch zu schleifen, so dass ich notgedrungen den Weg benutzte, der von der Böschung aus durch den Wald verlief.
Als der Nachmittag sich dem Abend zuneigte, war ich derart ausgelaugt, dass ich nicht mehr
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