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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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begriff, dass sie über mein Leben noch nicht entschieden hatte; stattdessen schickte sie sich an, Hartmann zu erschießen, der wehrlos auf seiner Trage lag.
    Für einen kurzen Augenblick, nicht länger als ein Atemzug, durchzuckte mich ein Gefühl der Genugtuung: Ja, sollte sie ihn doch töten und jene Rache vollziehen, die zu üben ich selbst nicht in der Lage gewesen war!
    Doch der Augenblick verging, und ein anderer Wunsch regte sich in meinem Herzen, der Wunsch nach Frieden, nach Beendigung des Reigens von Tod und Vergeltung.
    „Nein!“, rief ich. „Tu es nicht!“
    Das Mädchen hielt inne und blickte zu mir herab. Gewiss verstand sie meine Worte nicht, doch hoffte ich, dass der Gestus unmissverständlich war.
    „Lass ihn leben! Bitte!“
    Ihr Blick wanderte von mir zu Hartmann, dann wieder zu mir. Der Bogen lag noch immer gespannt in ihren Händen; die Pfeilspitze war zu Boden gerichtet. Sie zögerte.
    „Er ist wehrlos!“, rief ich. „Bitte, hab Erbarmen!“
    Plötzlich erinnerte ich mich an den wendischen Bauern, der vor Jahren in die Hände der Räuberbande gefallen und von Herbort getötet worden war.
    „Bede! Bede!“ Es war das einzige wendische Wort, das ich kannte.
    Lange Zeit stand das Mädchen reglos und blickte auf mich herab. Endlich gewahrte ich eine leichte Bewegung ihrer Hände: Die Bogensehne entspannte sich, langsam, doch zusehends. Dann trat das Mädchen zurück und entschwand aus meinem Blickfeld. Ich wartete mit klopfendem Herzen und hörte ein fernes Scharren und Rascheln, dessen Sinn ich nicht begriff. Schließlich näherte sich das Geräusch, und über den Rand der Grube glitt eine Leiter bis hinab vor meine Füße.
    Meine Bitte war erhört worden.

Von dem fremden Mädchen – ein fünftes Mal
    Sie ließ mich hinaufklettern, hielt sich jedoch in einigen Schritten Entfernung und richtete den gespannten Bogen auf mich. Nun, da ich ihr zu ebener Erde gegenüberstand, wurde ich mit Erstaunen inne, wie klein sie war, denn ich überragte sie mindestens um eine Kopfeslänge. Sie stand stocksteif, wachsam, die dunklen Augen misstrauisch verengt.
    Ich blickte hinüber zu Hartmann, der drüben am Waldrand auf seiner Bahre lag, dann zurück zu ihr.
    „Darf ich mich um ihn kümmern?“, fragte ich.
    Sie ließ nicht erkennen, ob sie meine Absicht verstanden hatte. Dennoch wandte ich mich behutsam um und ging langsamen Schrittes zu meinem Herrn hinüber. Hartmann starrte mich ungläubig an, als ich die Tragriemen ergriff, die Bahre anhob und sie zum Haus schleifte. Das Mädchen verfolgte jede meiner Bewegungen. Die Pfeilspitze war nach wie vor auf meine Brust gerichtet.
    „Kann ich ihn ins Haus bringen?“, fragte ich. „Es wird schon dunkel.“
    Sie starrte mich finster an, wobei eine Haarsträhne über ihren dunklen Augen zitterte.
    Ich erwartete keine Antwort, denn ich wusste, dass sie mich nicht verstand. Trotzdem spürte ich, dass es wichtig war, zu sprechen. Vielleicht war der Klang einer menschlichen Stimme geeignet, ihr Vertrauen zu erwecken – und dass wir ihres Vertrauens bedurften, stand außer Zweifel, denn Hartmann und ich waren ihre Gefangenen. Zudem begann ich in jenem Geschöpf, das mir noch vor kurzem wie ein mordendes Gespenst erschienen war, das junge Mädchen zu sehen, das sie in Wahrheit war – ein Mädchen, das unsägliches Grauen mit angesehen hatte und in ihrer Verzweiflung zur Kriegerin wider Willen geworden war. Nichts schien sie am Leben erhalten zu haben außer dem Bedürfnis, furchtbare Rache zu nehmen. Ich erkannte es an ihrem versteinerten Gesicht, das von tagelanger Schlaflosigkeit zeugte, ebenso wie an der Abgezehrtheit ihres Leibes. Auch fiel mir auf, dass einzelne Strähnen ihres schwarzen Haares im Mondlicht silbern schimmerten, und ich erkannte, dass sie weiß geworden waren, wie es sonst nur bei Menschen hohen Alters der Fall ist – oder bei solchen, die Entsetzliches erlebt haben.
    „Ich bringe ihn hinein, ja?“, wiederholte ich, zog die Trage über die Schwelle und setzte sie im Innern des Hauses ab. Das Mädchen kam mir nach und blieb auf der Türschwelle stehen, den Bogen gespannt.
    Erst jetzt fiel mir ein, dass Hartmann und ich noch immer bewaffnet waren, und kam auf die Idee, dass es ein Zeichen guten Willens wäre, wenn wir uns der Waffen entledigten. Also zog ich meinen Dolch aus dem Gürtel, legte ihn auf den Boden und schob ihn langsam mit der Fußspitze zu ihr hinüber. Dann ging ich zu Hartmann, um dessen Schwert aus der Scheide zu

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