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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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ziehen.
    „Was tust du, Junge?“, flüsterte mein Herr mir zu.
    „Wir müssen es ihr geben“, sagte ich. „Was wollt Ihr sonst damit tun? Sie erschlagen?“
    Ich bemerkte, dass er meine Worte überdachte. Es sah nicht danach aus, als ob sie uns zu töten beabsichtigte. Wenn wir jedoch weiterlebten, brauchten wir Nahrung, Obdach und Schutz in dem feindlichen Land – kurz: Wir brauchten ihre Hilfe.
    „Also gut“, sagte Hartmann und duldete, dass ich das Schwert aus der Scheide zog und es, wie zuvor den Dolch, am Boden zu ihr hinüberschob.
    „Und was jetzt?“, fragte Hartmann, als niemand von uns sich mehr rührte.
    „Ich weiß nicht“, antwortete ich und sah mich in dem leeren Haus um, dessen Inneres im Dunkeln lag. „Vielleicht sollten wir ein Feuer entzünden.“
    Hartmann lachte freudlos. „Gute Idee! Und wenn du schon dabei bist, dann frag sie doch gleich, ob sie den Hasen mit uns teilt.“
    „Ich meine es ernst“, sagte ich. „Gebt mir Flintstein und Schlageisen.“
    Hartmann schürzte skeptisch die Lippen, langte jedoch in die Tasche und zog beides hervor.
    „Zunder haben wir nicht mehr“, sagte er. „Er ist nass geworden, als wir durch den See geschwommen sind.“
    Ich nickte, griff nach einer Handvoll Stroh, das auf den Schlafbänken ausgebreitet war, und hielt es mitsamt dem Flintstein empor.
    „Können wir Feuer machen?“, fragte ich, an das Mädchen gewandt.
    Sie legte den Kopf schief wie ein Vogel, der etwas Verdächtiges beobachtet. Doch sie ließ zu, dass ich an den irdenen Ofen trat, Stroh zusammenhäufte und Funken schlug. Brennholz lagerte in Griffweite auf einem Sims, und so dauerte es nicht lange, bis ein kleines Feuer das Innere des Hauses erhellte. In dem Bestreben, eine möglichst friedliche Stimmung zu erzeugen, ging ich zurück zu Hartmann, rückte etwas Stroh zurecht und schob es ihm wie ein Kissen unter den Kopf. Dann setzte ich mich neben ihn. Hartmann hatte das Mädchen nicht aus den Augen gelassen, nun aber schien auch er sich zu entspannen, griff nach seiner Feldflasche und trank einen Schluck. Auch ich trank und hielt die Flasche schließlich dem Mädchen hin.
    „Willst du Wasser?“
    „Woda?“, kam es leise über ihre Lippen.
    Ich nickte, denn die Ähnlichkeit dieses Wortes in meiner Muttersprache überzeugte mich, dass sie richtig verstand.
    Sie zögerte. Endlich trat sie zwei Schritte heran, hielt Bogen und Pfeil mit der linken Hand und streckte langsam die rechte aus. Sie ergriff die Flasche mit den Fingerspitzen, zog sie ruckartig an sich und trat sofort zurück, als fürchtete sie, ich würde mich auf sie stürzen. Langsam führte sie die Flasche zum Mund, wobei sie nicht wagte, den Kopf in den Nacken zu legen und mich aus den Augen zu lassen.
    Als sie mir das Gefäß zurückreichte, streifte einer meiner Finger unabsichtlich den ihren – und ich erinnere mich bis heute, welch seltsames Gefühl diese allererste Berührung mir verursachte. Es war etwas wie jenes kurze Knistern, das einen zuweilen durchzuckt, wenn man feinen Wollstoff berührt, eine Art Entladung wie von unsichtbarer Spannung.
    „Ich hoffe, du weißt, was du tust“, sagte Hartmann. „Vergiss nicht, dass sie eine Feindin und Heidin ist. Sie wird uns den Wenden ausliefern ... und ich habe manche Geschichten darüber gehört, was sie mit gefangenen Christen tun.“
    „Wir haben keine Wahl“, entgegnete ich. „Gewiss, vielleicht bedeutet es unseren Tod, ihr zu vertrauen, aber ganz sicher ist es unser Tod, zu fliehen und weiter durch die Wildnis zu irren.“
    Was die Geschichten über das Schicksal christlicher Gefangener in wendischer Hand betraf, so dachte ich einstweilen nicht darüber nach. Seltsamerweise war mir alle Furcht vor den Heiden abhandengekommen, die unsere grausigen Erlebnisse zunächst genährt hatten. Je länger ich das Mädchen betrachtete, desto weniger sah ich eine Dämonin; vielmehr schien sie mir – zumal jetzt im Licht des Feuers – kaum verschieden von den jungen Frauen in meiner Heimat. Fast konnte ich mir vorstellen, dass sie statt der Waffe eine Spindel in den zarten Händen hielt und friedlich auf einer der Wandbänke beim Feuer saß.
    Als hätte sie meinen Gedanken erraten, schob sie sich mit dem Rücken an der Wand zu einer Bank an der gegenüberliegenden Seite des Raums. Dort ließ sie sich nieder und kreuzte die nackten Beine, den Bogen im Schoß.
    „Vielleicht sollten wir einfach schlafen“, flüsterte ich Hartmann zu.
    „Wahrscheinlich hast du

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