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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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weiter konnte und um Rast bat. Hartmann nickte nur, das Gesicht schmerzverzerrt. Ich ließ die Trage so vorsichtig wie möglich zu Boden sinken, dann stöberte ich zwischen den Bäumen am Wegrand nach etwas Essbarem. Zum Glück fand ich Kresse und Sauerampfer und teilte die karge Nahrung, indem ich an Hartmanns Bahre niederkniete und abwechselnd mir selbst und ihm ein Blatt zwischen die Zähne schob.
    „Es ist nicht zu glauben“, sagte er, die Augen zum Himmel erhoben. „Ich habe Dutzende von Feldzügen mitgemacht, gegen deutsche, französische und italienische Ritter gekämpft, aber nie bin ich ernsthaft verwundet worden. Ich bin gegen Armeen mit Tausenden von Männern angeritten, und nie ist es jemandem gelungen, mich aus dem Sattel zu schlagen. Doch nun hat ein einziger wendischer Bursche mit einem Bogen es fertiggebracht, dass ich hilflos auf dieser Pritsche liege.“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Welch ein Schicksal – und welch eine Schmach, auf diese Weise zu sterben.“
    „Ihr werdet nicht sterben“, sagte ich mit mehr Überzeugung, als ich empfand. „Ich werde für Euch sorgen, solange ich noch Kraft habe. Vielleicht hat Gott ein Einsehen und führt uns am Ende doch zum Heerlager zurück.“
    Hartmann lächelte schwach. „Mein guter Odo, dein Gottvertrauen erstaunt mich immer wieder. Wir sind ganze zwei Mann, davon einer ein Krüppel, kennen den Weg nicht, haben fast nichts zu essen und den Feind auf unseren Fersen. Es wäre ein Wunder, wenn wir gerettet würden.“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Dennoch bin ich froh, dass du bei mir bist. Es gibt wenige Menschen, in deren Gesellschaft zu sterben ich mir vorstellen könnte. Du bist genau der Richtige, Odo – ein besserer Mensch, als ich es je war, und vielleicht treuer, als ich es verdiene.“
    Ich schwieg, denn ich vermochte nichts Angemessenes zu erwidern. So schlug ich gegen den stummen Protest meiner verspannten Schultern vor, rasch aufzubrechen und unseren Weg fortzusetzen, um vor Einbruch der Nacht einen geschützten Platz zu finden. Hartmann stimmte mir resigniert zu, und so nahm ich meine Schlepptaue wieder auf, hob die Bahre an und mühte mich vorwärts.
    Die Sonne sank rot im Westen und durchglühte das Dickicht mit flammenden Strahlen, so dass es aussah, als stünde der Wald in Brand. Der Weg wand sich über einen Hügel, dann hinab in eine Senke, durch finstere Tannen und schließlich durch einen dichten Eichenwald. Bald würde es dunkel werden, und halbwegs erwartete ich schon, erneut den unheimlichen Schrei zu hören, der das Nahen unseres Verfolgers ankündigte.
    Doch kein Schrei ertönte, und nach einiger Zeit erreichten wir eine Kreuzung, wo ich nach Hartmanns Weisung die Abzweigung nach Westen einschlug. Als die Sonne fast untergegangen war, tauchte vor uns eine Lichtung auf, bestanden von einem einsamen Gehöft in wendischer Bauweise mit mehreren Nebengebäuden. Der Ort schien verlassen. Aus der Giebelöffnung des Hauses drang kein Rauch, die Stalltüren gähnten offen in der Abendsonne, und weder Mensch noch Tier waren zu sehen. Hartmann wälzte sich mühsam auf seiner Bahre, um nach vorn spähen zu können.
    „Ein Haus“, sagte ich ihm. „Es sieht nicht bewohnt aus.“
    „Ist es auch nicht“, entgegnete er mit müder Stimme. „Erkennst du es nicht wieder?“
    Ich sah genauer hin, musterte Haus, Garten und Stallungen, ließ den Blick über offene Speichergruben und abgeerntete Obstbäume schweifen. Dann begriff ich: Es war dasselbe Gehöft, auf das wir bereits vor Tagen gestoßen waren, nachdem wir das schauerliche Moor verlassen hatten.
    „Wir sind im Kreis gegangen“, murmelte Hartmann kopfschüttelnd. „Erst zu lange nach Nordwesten, dann zu weit nach Südosten. Gibt es denn keinen Weg aus diesem verfluchten Land?“
    Bei diesen Worten ergriff auch mich die Hoffnungslosigkeit. Noch einmal betrachtete ich das Haus, um womöglich einen Unterschied festzustellen und einen Beweis zu finden, dass es doch nicht dasselbe war – und dabei fiel mein Blick auf einen kleinen, dunklen Fleck an der uns zugewandten Giebelwand. Was bei flüchtiger Betrachtung wie ein Bündel ausgesehen hatte, erkannte ich nun als den toten Körper eines Hasen, der mit ausgestreckten Läufen am Boden lag.
    „Ein Hase?“, raunte Hartmann, der das Tier offenbar im gleichen Augenblick entdeckt hatte. „Das bedeutet, dass in der Zwischenzeit jemand hier gewesen sein muss.“
    „Ich werde nachsehen“, sagte ich, setzte die Bahre am Rand

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