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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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ihr finsterer Blick sich aufhellte.
    „O-do“, flüsterte sie, mit sehr kurzem „o“, das fast wie ein „a“ klang.
    „Oh!“, machte ich, und um die Aussprache zu versinnbildlichen, zog ich einen übertriebenen Spitzmund. „ Oh -do.“
    Ihre Mundwinkel zuckten, als ob der Anflug eines Lächelns ihre versteinerten Züge wanken ließ.
    „Odo“, wiederholte sie leise. „Sjostje.“
    „Sjostje?“, fragte ich verständnislos.
    „Ich glaube, sie versucht, ‚Sachse’ zu sagen“, vermutete Hartmann.
    „Sachse“, sagte ich, an das Mädchen gewandt. „Ja, das stimmt. Ich bin Odo, und dies ist Ritter Hartmann.“
    Ihr Blick verfinsterte sich, als ich auf meinen Herrn wies. Immerhin, fiel mir ein, hatte sie ihn bei der ersten Begegnung mit entblößtem Gemächt gesehen.
    „Wie ist dein Name?“, lenkte ich ab und deutete mit übertriebener Geste auf sie, was zur Folge hatte, dass sie schützend die Knie anzog.
    „Ich: Odo“, wiederholte ich. „Du ...?“
    Ihre Lippen bewegten sich.
    „Lena?“, glaubte ich zu verstehen.
    Sie schüttelte den Kopf. „Lana.“
    „Lana ...“ Nachdenklich sprach ich den Namen aus, denn ich empfand ihn als schön und zugleich geheimnisvoll wie eine Zauberformel.
    „Wir müssen nach Hause“, begann ich zu erklären und suchte nach einer Geste, um unser Begehren zu versinnbildlichen. „Nach Hause, zurück zu unseren Leuten.“ Ich stand auf, machte zwei Schritte in Richtung Tür und wies nach Westen. „Verstehst du? Kannst du uns helfen?“
    Sie folgte jeder Bewegung mit den Augen, ohne erkennen zu lassen, ob sie verstand. Ich wechselte einen Blick mit Hartmann, der mit den Schultern zuckte.
    „Versuchen wir es einfach“, meinte er.
    Ich zog die Bahre heran und half ihm, sich wieder darauf zu betten. Dann nahm ich die Tragriemen auf und schickte mich an, den Eingang zu durchqueren.
    Sofort stand das Mädchen auf und richtete den Bogen auf mich. Meine Absicht erkennend, huschte sie nach draußen und wartete, bis ich im Freien stand.
    „Warte“, bat Hartmann, als ich die Bahre ins Freie zog. „Ich muss mich erleichtern.“
    Das war unter den gegebenen Umständen nicht einfach zu bewerkstelligen, und so half ich ihm, sich zu erheben und zur hinteren Hauswand zu hinken. Das Mädchen kam uns nach, blieb in einigem Abstand stehen und beobachtete mit kaltem Blick, wie mein Herr sich mit meiner Hilfe entblößte und Wasser ließ. Da ich dasselbe Bedürfnis empfand wie er, nutzte auch ich die Gelegenheit, wobei ich mich schamhaft zur Seite drehte, denn die forschenden Augen des Mädchens folgten jeder Bewegung meiner Hände.
    Schließlich brachte ich Hartmann zu seiner Bahre zurück und nahm erneut die Tragseile auf. Das Mädchen war unterdessen zu der Wegkreuzung hinübergegangen, an der das einsame Gehöft lag. Sie blickte nach Norden, nach Osten und nach Westen; dann wandte sie sich um und winkte.
    „Ich glaube, sie hat mich verstanden!“, sagte ich.
    „Das glaube ich nicht“, widersprach mein Herr, der bemerkte, dass sie sich nach Osten wandte.
    „Halt!“, rief ich und deutete in die entgegengesetzte Richtung. „Wir müssen nach Westen!“
    Das Mädchen blieb stehen und schüttelte stumm den Kopf.
    „Und was jetzt?“, fragte Hartmann.
    „Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als ihr zu folgen“, sagte ich.
    Hartmann seufzte. „Nun gut. Lass uns beten, dass das zu keinem schlimmen Ende führt.“
    Wir waren eine merkwürdige Gesellschaft, als wir so durch die Wälder zogen. Vorneweg ging das Mädchen, den halb gespannten Bogen im Arm haltend und sich alle Augenblicke nach uns umblickend. Ich folgte in einem Abstand von zehn Schritten, die Tragriemen über die Schulter gezogen und die Bahre mit dem Verwundeten hinter mir herschleifend. Wir sprachen kaum ein Wort, denn Hartmann litt unter Schmerzen und ich unter der Anstrengung, so dass wir beide kaum Atem übrig hatten. Zwei Stunden lang schleppten wir uns dahin, bis der Wald sich lichtete und in eine offene Landschaft mit Büschen und Farnkraut überging. Das Mädchen hatte innegehalten, prüfte den Weg und sah sich aufmerksam um.
    „Das ist das Moor“, erkannte Hartmann. „Dasselbe, in dem wir uns vor fünf Tagen verirrt haben.“
    „Das ist doch ein gutes Zeichen“, meinte ich, während ich mir die schmerzenden Schultern rieb. „Sie führt uns auf demselben Weg zurück, den wir gekommen sind. Sicher kennt sie sich hier aus, so dass wir diesmal nicht befürchten müssen, in Moorlöcher zu

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