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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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tappen.“
    „Dein Wort in Gottes Ohr“, sagte Hartmann mit schwacher Stimme.
    Wir wanderten, und die Sonne überstieg ihren Höhepunkt. Die Moorlandschaft ringsum wurde immer wilder und unwegsamer, und selbst unsere Führerin hielt des Öfteren inne und schien sich besinnen zu müssen. Den gebahnten Weg hatten wir längst verlassen, um uns in Schlangenlinien quer durch ein Netz stehender Tümpel vorzuarbeiten. Mittlerweile kamen mir Zweifel, ob sie den Weg tatsächlich kannte, denn es sah nicht so aus, als ob sie uns in Richtung ihres Heimatdorfes führte. Stattdessen bog sie immer weiter nach Norden ab und blickte umher, als sei sie auf der Suche nach einem Ort, den sie selbst noch nie aufgesucht hatte.
    Einmal blieb sie stehen, duckte sich plötzlich nieder und spannte den Bogen. Auch ich hielt inne und bemerkte, dass sich in einiger Entfernung Flugenten auf einem Teich niedergelassen hatten. Mit bemerkenswerter Ruhe zog sie ab, ließ den Pfeil schwirren und erlegte eine der Enten im selben Moment, als die übrigen erschrocken aufflatterten und davonstoben. Dann huschte sie leichtfüßig hinüber, zog die tote Ente mit dem Bogenholz ans Ufer, entfernte den Pfeil und steckte die Füße des Tiers in ihren Gürtel, so dass der Körper an ihrer Hüfte baumelte.
    Hartmann und ich hatten zugesehen, und obwohl wir kein Wort sprachen, war ich sicher, dass er über die Jagdkünste unserer Führerin ebenso erstaunt war wie ich. Immerhin konnte ich mir nun vorstellen, wie sie fünf Tage lang allein in der Wildnis überlebt hatte.
    Weiter und immer weiter zogen wir ins Moor hinaus, während die Sonne sich rötete. Nebel kam auf und hüllte die Landschaft in bleichen Dunst, so dass die wenigen Bäume wie gespenstische Gerippe daraus aufragten.
    „Wir kommen immer weiter nach Norden“, bemerkte Hartmann misstrauisch. „Weiß sie überhaupt, wonach sie sucht?“
    Ich kam nicht zu einer Antwort, denn im selben Moment rief das Mädchen, das weit vorausgeeilt war, uns etwas zu. Natürlich verstanden wir ihre Worte nicht, konnten jedoch erkennen, dass sie winkte. Ich schleifte die Trage voran, bis ich mich ihr auf wenige Schritte genähert hatte, und erkannte in einiger Entfernung eine dunkle Wand im Nebel, die der Schatten eines Waldrands sein mochte. Wieder sagte sie etwas, das ich nicht verstand.
    „Gehen wir dorthin?“, fragte ich und deutete voraus.
    Sie antwortete nicht, sondern setzte ihren Weg fort. Bald konnte ich erkennen, dass wir uns tatsächlich einer bewaldeten Böschung näherten, die sich wie ein Meeresufer aus dem flachen Moorland erhob. Der Vergleich war treffend, denn der Bodennebel brach sich wie seichtes Wasser an dem Abhang, während das jenseitige Land trocken und fest aussah.
    Die Böschung zu bewältigen war nicht leicht, denn der lehmige Boden stieg steil an. Eine Zeitlang sah das Mädchen zu, wie ich mich abmühte, dann jedoch schulterte sie den Bogen, trat zu uns und nahm das Fußende der Trage auf. In dieser Weise trugen wir Hartmann zu zweit und ohne größere Mühe hinauf, bis wir den Waldrand erreicht hatten. Dort angekommen, ließ sie ihr Ende der Trage sogleich wieder fallen, nicht ohne Hartmann, der beim Aufschlag vor Schmerzen stöhnte, einen finsteren Blick zuzuwerfen. Dann wandte sie sich um und ging mitten in den Wald hinein.
    „Gehässiges kleines Biest“, zischte Hartmann.
    „Aber sie hat uns doch geholfen!“
    „ Dir hat sie geholfen“, stellte er richtig. „Mir würde sie die Gurgel durchschneiden, wenn du nicht da wärst.“
    „Aber letzte Nacht, als ich schlief, hat sie Euch doch auch nichts angetan.“
    „Nur um deinetwillen, glaube ich. Mir scheint, dass sie etwas für dich übrighat – soweit man das aus ihrem verschlossenen Gesicht lesen kann.“
    Wir waren noch nicht weit in den Wald vorgedrungen, als sich im Unterholz ein Knacken und Rascheln vernehmen ließ. Unsere Führerin erhob die offene Hand und rief etwas, das ich nicht verstand. Eine Männerstimme antwortete, und endlich begriff ich, dass wir auf Menschen gestoßen waren. Wenige Augenblicke später sprangen sie aus der Dunkelheit hervor und umringten uns: ein Dutzend Männer in wendischer Tracht, mit Äxten oder Speeren bewaffnet.
    „Ich wusste es!“, zischte Hartmann mir über die Schulter zu. „Sie hat uns geradewegs zu unseren Feinden gebracht.“
    Ich enthielt mich einer Antwort, sah ich mich doch im selben Moment einem bärtigen Mann gegenüber, der mir die Spitze seines Speers unter das Kinn hielt.

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