Die Tränen der Vila
noch immer verfärbt und geschwollen, mit einem starken Ruck in seine natürliche Lage zurückgebracht worden war. Eine der Frauen goss eine Flüssigkeit über das Bein, die einen Geruch nach Lavendel verströmte, während die zweite ein Leinentuch auflegte.
Hartmann stöhnte, wurde jedoch zusehends ruhiger, als er begriff, dass man seine Schmerzen zu mildern suchte. Schließlich gab der Mann mit dem Speer seinen Kopf frei und trat zurück, während auch die Frauen sich entfernten, wobei sie das Geschirr wieder mitnahmen. Hartmann stützte sich mühsam auf den Ellbogen hoch, um das behandelte Bein zu begutachten.
„Ich gebe zu“, sagte er, „besser macht es ein sächsischer Wundarzt auch nicht. Gib mir noch mehr von dem Met, Odo!“
Ich kam der Aufforderung nach. Hartmann leerte das Gefäß fast vollständig und wischte sich den Mund ab.
„Töten wollen sie uns offenbar nicht, sonst würden sie sich nicht die Mühe machen, mein Bein einzurenken und ihre Vorräte mit uns zu teilen. Ich frage mich nur, warum. Das Mädchen muss ihnen doch erzählt haben, was vorgefallen ist.“
Ich nickte nachdenklich und blickte zu ihr hinüber. Sie saß noch immer in einiger Entfernung im Gras und beobachtete uns.
„Vielleicht liegt es daran, dass wir nicht als Feinde, sondern als Flüchtlinge hierhergekommen sind“, vermutete ich. „Wir waren unbewaffnet, und das Mädchen hat uns geführt. Womöglich betrachtet man uns als Gäste.“
Hartmann lachte bitter. „Glaubst du etwa, dass diese Heiden ein Gastrecht kennen?“
„Warum nicht?“, entgegnete ich, denn angesichts der Freundlichkeiten, die man uns erwiesen hatte, schien mir das die wahrscheinlichste Erklärung. „Vielleicht sollten wir uns einfach in die Lage schicken und froh sein, dass wir etwas zu essen haben und nicht mehr in der Wildnis herumirren müssen.“
„Ja, das sollten wir wohl …“ Hartmann nickte resigniert. „Aus eigener Kraft können wir nicht fliehen, und das Heer des Herzogs wird gewiss nicht bis hierher vordringen. Vermutlich glaubt man uns längst verloren und getötet. Es wäre ein Wunder, wenn wir jemals nach Hause zurückkehren, meinst du nicht?“
Ich schwieg, doch innerlich gab ich ihm recht.
Vom Zufluchtsort der Wenden
Eine ganze Woche war vergangen, seit wir uns von unserem Heer getrennt hatten. Wir wussten nicht, wo wir uns befanden, wenngleich Hartmann meinte, es seien vielleicht nur zehn Meilen bis zum großen See – doch in unserer Lage hätten es ebenso gut hundert sein können, denn wir konnten nicht fort.
Dennoch blieb die Verzweiflung uns fern; ja, sie machte, je länger wir blieben, der Erleichterung und schließlich sogar der Dankbarkeit Platz. Entgegen unserer Erwartung wurden wir keineswegs wie Gefangene gehalten, denn weder legte man uns Fesseln an, noch wurden wir bewacht. Stattdessen ließ man uns einfach am Rand der Senke unter freiem Himmel lagern. Zweimal am Tag kamen die beiden älteren Frauen, um uns Speise zu bringen und Hartmanns Genesung zu überwachen. Als die Schwellung abgeklungen war, schienten sie sein Bein mit einer Holzlatte, und bald konnte er aufstehen und, auf mich gestützt, ein wenig umherhinken.
Wir schliefen im Freien, denn die Augustnächte waren warm. Tagsüber saßen wir im Schatten der Bäume und sahen dem Treiben unserer Gastgeber zu. Die Wenden erschienen mir inzwischen wie harmlose Bauern in meiner Heimat: Bei Sonnenaufgang standen sie auf, molken Ziegen und Schafe, schöpften Wasser am Bach und verrichteten allerlei Hausarbeiten. Dabei waren die Frauen vor allem mit der Bereitung des Essens beschäftigt, während die Männer Holz schlugen, ihre Behausungen ausbesserten oder im Wald nach Kleingetier jagten. Die halbwüchsigen Jungen spießten Fische am Bach und machten eine Art Wettspiel daraus, das mit großem Geschrei und Gelächter verbunden war. Überhaupt war der Umgang der Menschen miteinander so vertraut und gesellig, dass es eine Freude war, ihnen zuzusehen.
Das Mädchen mit dem schwarzen Haar blieb stets in unserer Nähe. Sie hatte Aufnahme bei einer Familie gefunden, deren Zelt nicht weit entfernt stand, und ich vermutete, dass es sich um Nachbarn aus ihrem Heimatdorf handelte. Zwar schlief sie im Innern der notdürftigen Behausung und aß gemeinsam mit der Familie, doch verbrachte sie viel Zeit für sich, und häufig sah ich sie allein umherwandern oder still am Bach stehen. Auch kam sie immer wieder in unsere Nähe und beobachtete uns.
Ich begann zu ahnen, dass mein
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