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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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Herr und ich nicht die einzigen Außenseiter im Lager der Wenden waren. Aus welchem Grund das Mädchen sich von den anderen absonderte, konnte ich nicht erraten. Auch fragte ich mich, warum sie sich selbst die Qual antat, durch unseren Anblick immer wieder an das Schicksal ihrer Familie erinnert zu werden.
    In der dritten Nacht nach unserer Ankunft fügte es sich, dass alle Menschen im Lager – Hartmann eingeschlossen – bereits schliefen, während ich mich an einen Baumstamm gesetzt hatte und in den sternklaren Himmel aufblickte. Irgendwann vernahm ich das Tappen nackter Füße, sah einen Schatten zum Bachufer hinabgleiten und erkannte die kleine, zierliche Gestalt, deren zerzaustes Haar im Mondlicht glitzerte. Sie ließ sich am Ufer nieder, das Gesicht dem Wasser zugewandt. Ich weiß nicht, was mich bewog, mich zu erheben und ihr vorsichtig zu nähern.
    Sie erschrak, als sie mich kommen hörte, und fuhr herum, dass ihr schwarzes Haar flog.
    „Nein, hab keine Angst!“, beschwichtigte ich und versuchte zugleich, mich an ihren Namen zu erinnern – fremd und geheimnisvoll hatte er geklungen, doch wollte er mir nicht einfallen.
    Das Mädchen war aufgesprungen und einige Schritte zurückgewichen. Ihr Atem ging hörbar, und ihre schmale Brust hob und senkte sich rasch.
    „Lana?“, fiel es mir endlich wieder ein.
    Beim Klang ihres Namens schien sie sich zu entspannen, und so wagte ich es, mich neben sie ans Bachufer zu setzen. Nach einiger Zeit ließ auch sie sich nieder, in gemessenem Abstand von mir, den Blick gesenkt.
    „Odo?“, fragte sie sehr leise – offenbar war sie sich meines Namens ebenso unsicher wie ich mir des ihren.
    „Ja, das bin ich“, bestätigte ich.
    Sie sagte etwas in ihrer fremden Sprache. Natürlich verstand ich kein Wort, doch der Klang ihrer Stimme, so zart und unirdisch wie ihre ganze Erscheinung, verwirrte mich. Es war kaum zu glauben, dass dieses feenhafte Geschöpf uns durch die Wälder gejagt und einen Pfeil nach dem anderen auf uns geschossen hatte.
    „Ich verstehe dich leider nicht“, sagte ich. „Ich kenne nur ein einziges Wort in deiner Sprache, und das ist ‚Woda’.“ Ich deutete auf den Bach vor unseren Füßen, in dem sich die Sterne spiegelten. „Woda!“
    Sie lächelte zaghaft. Bisher hatte sie den Kopf gesenkt gehalten, was den aufwärts spähenden Augen einen misstrauischen Ausdruck verlieh; nun jedoch hob sie das Gesicht, und ich nahm erstmals dessen ganze fremdartige Schönheit wahr.
    „Woda“, wiederholte sie und deutete ebenfalls zum Wasser, dann zu mir. „Odo.“ Wieder klang das „o“ eher wie ein „a“.
    „ Oh -do“, korrigierte ich ihre Aussprache, wie schon einige Tage zuvor, mit übertrieben gespitztem Mund.
    Sie lächelte, ahmte meine Gebärde nach und wiederholte den Namen mit verbesserter Betonung. Dabei spitzte sie gleich mir die Lippen und neigte sich vor. Es war höchst seltsam, meinen Namen auf diese Weise ausgesprochen zu hören, noch dazu mit ihrer leisen, geschmeidigen Stimme.
    „Kannst du mir noch mehr Wörter beibringen?“, fragte ich. „Das hier …?“ Ich deutete auf die Erde zwischen uns. Wieder formten ihre Lippen ein Wort, und ich sprach es sinnend nach.
    Nun kam mir der Gedanke, die ganze Angelegenheit in ein Spiel zu verwandeln, und ich deutete nacheinander auf alles Mögliche – den Himmel, das Gras, einen Baum, ein Zelt –, ließ mir den wendischen Namen des betreffenden Dings vorsagen und wiederholte ihn. Eigentümlicherweise kam es mir nicht in den Sinn, die Rollen zu tauschen: Ich blieb der Lernende, und der Zauber der melodischen Sprache ließ meine Wissbegier nicht ermüden, bis ich etwa zwei Dutzend Worte kannte. Dann memorierte ich das Gelernte, indem ich von neuem zeigte und benannte, ohne mir vorsagen zu lassen. Einige Male stockte ich und sprach dieses oder jenes Wort mit verkehrter Betonung, woraufhin Lana leise lachte und mich berichtigte. Am Ende beschloss ich, auch ihr etwas beizubringen, und ließ sie meinen Namen so oft wiederholen, bis sie mit Mühe das lange „o“ bewältigte. Es schien ihr Spaß zu machen, und das Misstrauen war fast vollständig aus ihren Zügen gewichen – bis ich den Fehler machte, zu meinem Herrn hinüberzudeuten.
    „Hartmann“, sagte ich. „Ritter.“
    Ihr Lächeln fror augenblicklich ein, und sie wandte das Gesicht ab. Ich schalt mich selbst, in meinem Eifer zu weit gegangen zu sein; schließlich war Hartmann der Anführer jener Männer gewesen, die ihre Familie

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