Die Tränen der Vila
Hartmann wurde von zwei weiteren Kriegern umstellt. Die übrigen scharten sich um das Mädchen, das sie mit allen Anzeichen von Freude und Erleichterung begrüßte. Dann ertönte ein Schrei, und ein junger Mann, nicht älter als ich, stürzte aus der Gruppe hervor, ließ seinen Speer fallen und schloss das Mädchen in die Arme. Es konnte kein Zweifel bestehen, dass die beiden einander seit langem kannten; vielleicht war der junge Mann sogar ihr Bräutigam, der sie sehnlichst vermisst hatte. Dieser Vermutung freilich widersprach die Tatsache, dass die beiden sich rasch voneinander lösten und der Jüngling sich beschämt zurückzog, als habe er etwas Ungebührliches getan.
Statt seiner nahm sich nun ein älterer Mann unserer Führerin an und stellte ihr viele Fragen, auf die sie in rasch fließendem Wendisch Antwort gab. Dabei deutete sie mehrfach auf mich und Hartmann, zog schließlich dessen Schwert aus dem Gürtel und überreichte es dem Mann. Dieser betrachtete uns nachdenklich und nickte.
In jenem Moment konnte ich mir keinen anderen Fortgang vorstellen, als dass die Krieger uns auf der Stelle töten würden, und innerlich straffte ich mich in Erwartung des Unvermeidlichen. Umso erstaunter war ich, als mein Bewacher seinen Speer senkte und ein ungeduldiges Zeichen mit der Hand machte.
„Ich glaube, wir sollen weitergehen“, flüsterte Hartmann mir zu.
Ich gehorchte, nahm die Tragriemen auf und machte einen vorsichtigen Schritt. Die Krieger umringten uns wie ein Geleittrupp, und so setzten wir uns in Bewegung und zogen in nördlicher Richtung geradeaus.
Nach kurzer Zeit gelangten wir an den Rand einer kreisförmigen Senke, die in der Mitte von einem Bachlauf durchschnitten wurde. Lichter flammten in der Nacht, und ich erkannte brennende Lagerfeuer. Der gesamte Platz war von Zelten, Unterständen aus Bruchholz und offenen Stallungen aus geflochtenem Astwerk bedeckt. Zahlreiche Menschen saßen vor den Eingängen ihrer Behausungen; Frauen schöpften Wasser am Bachufer, und Kinder jeden Alters liefen umher. Als wir das Lager erreichten, umdrängten sie uns mit großen Augen, manche neugierig, andere misstrauisch dreinblickend.
Man führte uns zum östlichen Rand der Senke und gebot uns zu halten. Ich setzte die Trage ab und sank erschöpft neben meinem Herrn ins Gras. Die Wenden umringten uns, und ich hörte ein Gewirr Dutzender Stimmen, bis jener ältere Mann, der sich mit unserer Führerin verständigt hatte, die Schaulustigen fortscheuchte.
„Das sind keine Krieger“, raunte Hartmann mir zu. „Keiner von ihnen trägt ein Schwert. Es scheinen Bauern aus den umliegenden Dörfern zu sein, die sich hier versteckt haben.“
Nach kurzer Zeit erschienen mehrere ältere Frauen, die Tonkrüge und Schalen trugen. Während das Mädchen sich in einiger Entfernung am Boden niederließ und uns beobachtete, traten die Frauen näher und reichten uns die Behältnisse, aus denen angenehme Düfte aufstiegen. Hartmann beäugte den Krug, der ihm in die Hand gedrückt wurde, anfangs mit Misstrauen, dann jedoch roch er daran, trank und reichte das Gefäß an mich weiter.
„Honigmet“, sagte er erstaunt.
Ich kostete meinerseits und stellte fest, dass das Getränk süß und würzig schmeckte. Die Schalen, die man vor uns ins Gras stellte, enthielten Getreidebrei, verschiedene Gemüse und sogar ein paar helle Fleischfasern, die nach Geflügel aussahen. Wir aßen hungrig und mit wachsendem Zutrauen.
Unterdessen hatten zwei der Frauen sich an Hartmanns Bahre niedergelassen und betrachteten mit kundigem Blick sein verletztes Bein. Als eine von ihnen ein Messer hervorzog, erschrak mein Herr und ließ seine Schale mit Haferbrei fallen. Ein Mann trat hinzu, packte ihn bei den Schultern und drückte ihn zu Boden, während die Frauen vorsichtig seinen rechten Beinling auftrennten und den Stoff entfernten.
„Nehmt eure Hände weg!“, schrie Hartmann. Ich wollte bereits aufspringen und ihm beistehen, doch der Mann, der ihn am Boden hielt, warf mir einen warnenden Blick zu. Dann ergriff er mit beiden Händen seinen Speer und drückte das Griffholz fest gegen Hartmanns Lippen, so dass dieser nichts anderes tun konnte, als darauf zu beißen. Zugleich wurde auf diese Weise sein Kopf am Boden fixiert, während die Frauen sein Bein packten.
Ein trockenes Knirschen war zu hören, gefolgt von einem entsetzlichen Aufschrei meines Herrn. Als ich wieder hinzusehen wagte, konnte ich erkennen, dass der gebrochene Unterschenkel, wenngleich
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