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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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Albrecht, wie Ihr mir erzählt habt.“
    „Der Bauer mit der Sense“, flüsterte Hartmann endlich, und seine Stimme klang so fremd, dass ich schauderte.
    „Ich bin fortgelaufen“, erklärte ich. „Mehrere Monate war ich unterwegs und bin bis nach Brunsvik und in die Heide nördlich der Weser gewandert. Dort griff mich eine Räuberbande auf, zu der übrigens auch Herbort gehörte. Sieben Jahre lang diente ich ihnen als Lockvogel für die Reisenden, die sie an der Straße überfielen. Dann wurde unser Versteck entdeckt, und alle Räuber wurden gefangen und gehängt, außer Herbort und mir. Ich floh erneut, hörte vom Kreuzzug und zog weiter nach Norden, um mich der Unternehmung anzuschließen. Dann traf ich auf Euch.“
    Eine tiefe, fast unerträgliche Stille trat ein, nachdem ich verstummt war. Der Bach rauschte friedlich, und irgendwo in den Wäldern schrie gleichgültig eine Eule – doch die Spannung war mit Händen zu greifen.
    „Gott“, flüsterte Hartmann nach einer endlos scheinenden Zeit. „Gott …“
    Das Wort ließ mich seine Erregung ahnen, denn gewöhnlich gebrauchte er es selten. Eigentlich hatte ich nicht erwartet, dass die Sache ihm naheging; schließlich kannte ich meinen Herrn als einen Mann, der in erster Linie seinen Vorteil verfolgte und sich durch moralische Erwägungen nicht aus der Ruhe bringen ließ. Erst als er weitersprach, erkannte ich mit Erstaunen, welchen Schlag ich ihm versetzt hatte.
    „Odo“, sagte er, noch immer mit jener eigentümlich schwachen und fremden Stimme. „Mein Junge …“
    Die ungewohnte Anrede ließ mich schaudern, schwankend zwischen Rührung und Abscheu. Als er jedoch die Hand nach mir ausstreckte, rückte ich ein wenig von ihm fort.
    „Lasst mich“, bat ich.
    Hartmann zog die Hand zurück, ließ sich mit einem Seufzen in die Rückenlage sinken und blickte, wie es seine Gewohnheit war, zum Himmel. Das tat er zwar jede Nacht, doch nun hatte ich erstmals das Gefühl, dass er dort oben mehr suchte als nur den Anblick der winzigen Sternenfeuer.
    „Gott“, sagte er zum dritten Mal, nun mit seiner gewöhnlichen Stimme. „Jetzt könnte ich einen Priester gebrauchen … Oft genug fallen sie einem zur Unzeit auf die Nerven, aber wenn man einen braucht, ist keiner da.“
    Er schwieg eine ganze Weile.
    „Es war Krieg“, fuhr er schließlich fort. „Im Krieg geschehen unschöne Dinge, ganz gleich, wer gegen wen kämpft und warum. Konrad war der vom Papst bestätigte König, und er hatte Albrecht zum Herzog ernannt. Die Priester sagten, es sei rechtens, für Albrecht und gegen Heinrich zu kämpfen. Und Albrecht wies uns an, gegen den Grafen von Blankenburg zu ziehen und seine Besitzungen zu verwüsten. Wir hatten den Segen der Kirche. Es war ein gottgefälliger Krieg – ebenso wie der, an dem wir jetzt teilnehmen.“
    „Glaubt Ihr das wirklich?“, fragte ich leise.
    Hartmann seufzte. „Nein“, gab er zu. „Ich habe viele Kriege mitgemacht, und in Wahrheit glaube ich, dass Gott sich einen Dreck darum kümmert, wer gegen wen zu Felde zieht. Es scheint ihn nicht einmal zu kümmern, auf wessen Seite die Kirche steht. Ich habe viele gute Männer sterben und viele Halunken siegen gesehen, und ich glaube nicht, dass Gott etwas damit zu tun hat. Wahrscheinlich sitzt er dort oben in seinem Himmel und hört nichts außer den Lobgesängen der Heiligen, die ihn taub für alles Geschrei gemacht haben, das von der Erde zu ihm heraufdringt. Ich habe meine Schlüsse daraus gezogen, wie du weißt: Da Gott unser Leben und Sterben gleichgültig ist, schien es mir gerechtfertigt, einfach meinen persönlichen Vorteil zu suchen.“
    „Warum sagtet Ihr dann, Ihr könntet jetzt einen Priester gebrauchen?“, fragte ich.
    Erneut seufzte Hartmann. „Weil es schön wäre, die Absolution zu empfangen und sich von aller Schuld befreit zu fühlen. Doch du hast recht: Was könnte mir die Lossprechung durch einen Priester bedeuten? Meine Taten im Krieg würden ihn wahrscheinlich gar nicht kümmern; stattdessen würde er mir eine Wallfahrt bei Wasser und Brot auferlegen, weil ich seit zwanzig Jahren keine Kirche besucht habe.“
    Ich erinnerte mich an meinen Besuch des Klosters in Lüneburg und konnte nicht umhin, ihm im Stillen recht zu geben.
    „Und dennoch fühle ich, dass ich schuldig bin“, sinnierte er. „Nicht vor Gott, nicht vor einem seiner Priester – sondern vor dir. Ich sehe dich an und stelle mir vor, dass du der Sohn jenes Mannes bist, den ich damals erschlagen habe.

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