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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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vermutlich Salz. Vorneweg reitet ein Mann mit langem Haar, vielleicht ein Edler.“
    „Oder ein Beamter“, warf Herbort ein. „Es könnte der Hofmeister von Salzau sein oder ein anderer Ministerialer.“
    Bertolt nickte. „Und seine Männer?“
    „Zwei Berittene in Waffen und drei Knechte“, berichtete Burkhard. „Einer lenkt den Wagen, die anderen beiden gehen zu Fuß.“
    Die Männer warfen einander beunruhigte Blicke zu.
    „Mit drei Bewaffneten zu Pferd können wir es nicht aufnehmen“, sagte Sigwalt. „Was hast du vor, Bertolt?“
    Der Hauptmann lächelte und wandte sich an mich. „Jetzt hör gut zu, Junge: Wenn ich dir ein Zeichen gebe, läufst du zur Straße und hältst die Männer mit dem Wagen an. Wende dich direkt an den Anführer, den Mann mit dem langen Haar, und an keinen anderen. Ruf die folgenden Worte: ‚Helft, Herr, meine Schwester ertrinkt in einem Bach!’ Sag nur dies, nichts anderes. Wenn er dir folgt, lauf hierher zurück. Alles andere übernehmen wir.“
    Die Räuber blickten erstaunt auf mich, dann, nicht ohne Bewunderung für den kühnen Plan, auf ihren Anführer.
    „Herbort, behalte den Jungen im Auge!“, ordnete Bertolt an. „Wenn er die Leute warnt – “
    „ – dann bekommst du einen Pfeil in den Rücken“, sagte Herbort, der seinen Bogen zückte und auf mich herabblickte. „Hast du verstanden, Junge?“
    Ich nickte erschrocken, während mir der Schweiß ausbrach.
    Als der Räuberhauptmann das Zeichen gab und die Männer mich vorwärtsstießen, rannte ich das kurze Stück durch den Wald und hinaus auf die Straße, als wäre der Teufel hinter mir her. Ich schwitzte und zitterte zugleich, doch meine klägliche Verfassung trug wahrscheinlich zur Überzeugungskraft meiner Darbietung bei.
    „Helft, Herr, helft!“, schrie ich, als ich aus dem Schatten der Bäume sprang, während der vorderste der Reiter überrascht sein Pferd zügelte. „Meine Schwester ertrinkt in einem Bach!“
    Der Reiter, ein stattlicher Mensch mit sauber gestutztem Bart und einem Rock aus grünem Wolltuch, blickte erstaunt auf mich herab. „Was sagst du, Junge?“
    „Meine Schwester ertrinkt in einem Bach!“, wiederholte ich und legte all meine Angst und Aufregung in diesen Hilferuf. Hinter mir zwischen den Bäumen, dessen war ich sicher, lauerte Herbort mit gespanntem Bogen und zielte zwischen meine Schulterblätter.
    „Bleibt beim Wagen!“, rief der Edle seinen Gefolgsleuten zu. Dann saß er ab, da es unmöglich war, das Pferd in den dichten Wald zu treiben.
    „Wo, Junge?“, fragte er.
    „Kommt schnell!“, rief ich, wandte mich um und verschwand zwischen den Bäumen. Der Mann folgte mir ohne weitere Fragen. Erst jetzt begriff ich, dass Bertolt seine List gut gewählt hatte. Ein Edler war stets bereit, eine ritterliche Tat zu vollbringen – vor allem, wenn es sich um eine Bauernmaid handelte, die nach vollbrachter Rettung in seinen Armen liegen und ihm Worte der Dankbarkeit ins Ohr hauchen würde.
    Ich lief bis zu der Brücke, die knapp außer Sichtweite der Straße lag. Dort blieb ich stehen. Auch der Mann, der mir gefolgt war, hielt erstaunt inne, offenbar nach dem Mädchen Ausschau haltend, das es zu retten galt. Im nächsten Moment raschelten die Büsche hinter ihm, und Bertolt, Burkhard und Herbort traten mit gezogenen Dolchen von hinten an ihn heran.
    „Dreh dich nicht um, und mach keinen Laut, wenn du leben willst“, raunte Bertolt.
    Unwillkürlich griff der Mann nach seinem Schwert, doch schon spürte er Herborts Messer an seinem Hals und erstarrte. Da man ihm nicht gestattete, sich umzuwenden, blickte er auf mich, und in seinem Gesicht standen Staunen und hilfloser Zorn zu gleichen Teilen. Beschämt schlug ich die Augen nieder und schlich beiseite, um mich hinter einem Baum zu verbergen.
    „Ausziehen!“, befahl Bertolt.
    Vor Scham und Gewissensnot vermochte ich nicht hinzusehen, als die Räuber den Mann zwangen, seine Kleidung samt Schwert und Geldbeutel abzulegen. Am Ende stand er nackt vor zu ihnen, und Bertolt zog ein Tuch aus der Tasche, um dem Hilflosen die Augen zu verbinden. Dann wurde er umgedreht und genötigt, beide Arme in die Höhe zu heben, während Herbort ihm zuraunte, er dürfe zur Straße zurückgehen, jedoch schön langsam und ohne Hast. Als der arme Mann, nackt und blind wie er war, über Baumwurzeln und Farne davonstolperte, lachten die Räuber schadenfroh. Er mochte ein Edler sein, doch seiner Kleider beraubt sah er aus wie jeder andere Mensch. Noch dazu

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