Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
Vom Netzwerk:
und fügte mich zuerst aus Not, dann aus Vernunft, schließlich aus Anhänglichkeit in Bertolts Gruppe. Es ist eine bittere Wahrheit, doch wer einem zu essen und ein Zuhause gibt, den schätzt man, obgleich er vor Gott ein Schuft sein mag.
    Tatsächlich war es bald unnötig, dass Bertolt mir seine Anweisungen in drohendem Ton erteilte und Herbort seinen Bogen spannte, denn ich gehorchte willig, lernte meine Aufgabe schätzen und empfand am Ende fast etwas wie Stolz. Mit zunehmender Übung führte ich der Bande diverse Händler, Freibauern und sogar einen fahrenden Ritter zu, dessen Geldbeutel allein ausreichte, um Verpflegung für Wochen einzukaufen und das altersschwache Pferd in der Mühle durch ein neues zu ersetzen. Bertolt war höchst zufrieden, lobte mich und bemerkte oft, es würde noch einmal ein tüchtiger Dieb aus mir werden. Wenn es Sünde ist, sich über ein solches Lob zu freuen, so bekenne ich meine Schuld – doch welchen Jungen hätte es nicht erfreut, von einem älteren Mann gelobt zu werden, der in gewisser Weise an ihm die Vaterstelle vertrat?
    Nach und nach lernte ich auch die anderen Mittel kennen, durch die sich die kleine Gemeinschaft am Leben hielt: das Jagen in den Wäldern, das Ausheben von Fallgruben für die Wildschweine und das Stehlen von Schafen. In regelmäßigen Abständen gingen zwei der Männer als Bauern oder Händler verkleidet zum Markt, um Beutestücke zu veräußern und Vorräte einzukaufen. Bei diesen Ausflügen jedoch begleitete ich die Räuber nie. Ich war der Einzige, dessen Gesicht ihre Opfer gesehen hatten, und Bertolt befürchtete, dass ein unglücklicher Zufall uns einem von ihnen über den Weg führen könnte. So sah ich während der ganzen Zeit niemals die Stadt Hermannsburg oder eines der Dörfer im Umkreis, nur die heimische Mühle, die dichten Wälder und die einsamen Straßen.
    Mit der Zeit erfuhr ich die Geschichte jedes einzelnen meiner Gefährten, mal vom Betreffenden selbst, mal durch Andeutungen der anderen. Bertolt, der Anführer, war bereits unter Banditen geboren worden und hätte sein „Handwerk“, wie er es nannte, freiwillig gegen keinen noch so einträglichen ehrenvollen Beruf eingetauscht. Hildegard, seine Ehefrau, war einst eine Stadthure gewesen und in ebendieser Eigenschaft mit ihm zusammengetroffen. Die beiden lebten bereits seit mehr als zehn Jahren zusammen, hatten jedoch keine Kinder. Vermutlich hatte Hildegards Gewerbe in frühester Jugend zu einer unglücklich verlaufenen Schwangerschaft geführt, mit der ihre Fruchtbarkeit ein vorzeitiges Ende fand. Keiner der anderen Männer in der Mühle schien Weib oder Kinder zu besitzen, was zur Folge hatte, dass Hildegard als einzige Frau viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Viele scherzten und plauderten mit ihr, doch schienen sie zugleich Respekt vor ihr zu haben, und nie sah ich irgendeinen ihr gegenüber zudringlich werden.
    Herbort, der hagere Geselle mit dem scharfen Messer, war ohne Frage der gefährlichste Charakter unter den Männern. Niemand kannte die Umstände, die ihn dazu bewogen hatten, sich als Halsabschneider durch die Welt zu schlagen. Wenn man dem Geflüster seiner Kumpane glauben durfte, hatte er Dutzende von Menschen getötet, nur um sich in den raschen Besitz einiger Münzen zu bringen. Sein Messer, an dem genug Blut klebte, um ihn für die Ewigkeit in den tiefsten Höllenpfuhl zu bringen, trug er stets offen im Gürtel.
    Mit dem kahlköpfigen Warmund schließlich hatte es eine besondere Bewandtnis: Er war der einzige Mann von höherer Geburt in der Runde, zweitgeborener Sohn eines freien Gutsbesitzers und als solcher ursprünglich für den geistlichen Stand bestimmt. Mehrere Jahre hatte er als Novize im Kloster Walsrode gelebt, war jedoch kurz vor der Profess – wie man das formelle Ordensgelübde nennt – geflohen. Warmund war ein gebildeter Mann, konnte lesen und schreiben und kannte sich vorzüglich in geschichtlichen und politischen Dingen aus. Für die praktischen Erfordernisse des Räuberlebens taugte er wenig, doch war er Bertolts bevorzugter Berater, da er die Lage aller Länder, Städte und Handelsstraßen in weitem Umkreis kannte und Auskunft über die verschiedenen Landesherren, ihre Güter, ihre Bündnisse und die Zahl ihrer Gefolgsleute geben konnte. Auf derlei Informationen baute Bertolt nicht wenige seiner Pläne, und gelegentlich schickte er Warmund sogar, als Mönch verkleidet, in die Dörfer und Städte der Gegend, um zu kundschaften.
    Ich erinnere mich noch

Weitere Kostenlose Bücher