Die Tränen der Vila
Kirchenmänner kümmern sich kaum um den Wald. Mönche jagen nicht, weder nach Wild noch nach Räubern.“
Indem er das Gespräch auf die Kirche lenkte, erwachten in mir zahlreiche neue Fragen.
„Warum bist du aus dem Kloster fortgegangen?“, fragte ich recht wagemutig, wobei ich hoffte, ihm nicht zu nahezutreten.
„Weißt du“, hob Warmund seufzend an, „die Mönche verbringen zwar ihre Tage mit Beten und Arbeiten, doch nebenbei tun sie genau dasselbe wie alle anderen: Sie intrigieren um höhere Posten, buhlen um die Gunst des Abtes und versuchen sich gegenseitig auszustechen. Bedenke: Alle Mönche sind Adelssöhne, und der Kampf um die Vorherrschaft liegt ihnen im Blut, selbst wenn es wenig mehr zu erreichen gibt als die Oberhoheit über das Gesinde, die Klosterküche oder die Bibliothek. Während jedoch der Adel draußen in der Welt offen seinen Leidenschaften folgt, tun die Mönche es heimlich. Da sie nicht mit dem Schwert kämpfen dürfen, haben sie spitze Zungen entwickelt und verwunden einander durch üble Nachrede. Und da sie keine Frauen haben dürfen, frönen sie den absonderlichsten Leidenschaften, von der allzu ausgiebigen Betrachtung der Muttergottesbilder bis hin zu widernatürlichen Dingen, die du aufgrund deiner Jugend noch nicht verstehen würdest. Sie sitzen in der Kirche, und ihre Lippen formen stumme Gebete, während sie in Gedanken bestenfalls beim Mittagsmahl, schlimmerenfalls beim Aushecken einer Intrige gegen einen Mitbruder und schlimmstenfalls bei den schönen Augen eines Novizen in der vordersten Reihe sind. Kannst du erraten, was manche von ihnen mit einem Jungen in deinem Alter tun, wenn sie zu dritt bei Nacht in seine Zelle kommen?“
„Ihn – schlagen?“, riet ich.
Warmund zeigte ein schiefes Lächeln. „Glaube das ruhig, mein lieber Odo … es ist besser für dein Seelenheil.“
Außerstande, den Sinn dieser rätselhaften Bemerkung zu verstehen, setzte ich nach: „Aber wir glauben doch alle an einen gerechten Gott und an seine heilige Kirche.“
„Tun wir das?“, fragte Warmund trocken. „Ich sage dir: Wenn Gott den Menschen zu seinem Ebenbilde schuf, dann brauchst du dir die Menschen nur anzusehen, um einige Zweifel an Gottes Gerechtigkeit zu lernen. Wer ist Gottes Ebenbild – ein Fürst, der seine Nachbarn mit Fehde überzieht und die Dörfer ihrer Bauern niederbrennt? Ein fetter Freihändler, der in Lüneburg Salz einkauft und es in Bremen zum doppelten Preis wieder losschlägt? Ein armer Bauer, der seine Cousine heiratet und blödsinnige Kinder mit ihr zeugt, weil es in seinem Dorf niemanden gibt, mit dem er nicht verwandt wäre? Oder vielleicht ein Straßenräuber, der sie allesamt um ihre Geldbeutel erleichtert, um nicht leben zu müssen wie sie?“
Ich verstummte, denn tatsächlich fiel mir keine gescheite Antwort ein.
„Und das ist auch der Grund, warum ich hier bin“, schloss Warmund nachdenklich. „Auf dieser Welt, Odo, herrscht weder Gott noch der Teufel, sondern der blinde Wille zu leben, zu essen und seine Macht zu mehren. Darin gleichen sich der Hörige wie der Herzog, der Bauer wie der Bürger, der Kötner wie der Kardinal, und ich wüsste nicht zu entscheiden, wessen Sünden vergeben werden oder wem die Auferstehung und das ewige Leben bestimmt sind. Verdient hat es kein Einziger – also bleibt nur, auf Gottes Barmherzigkeit zu vertrauen. Vielleicht ist dir das ein Trost, da du dich nun einmal entschieden hast, ein Räuber zu werden.“
Dazu hatte ich mich keineswegs entschieden, jedenfalls nicht aus freiem Willen, und es verdross mich, wie Warmund es ausdrückte. Oft – wenn auch gewiss nicht so oft wie nötig – hatte ich mir schon Gedanken darüber gemacht, welches Schicksal mich in der jenseitigen Welt erwarten mochte. Nach den Predigten des Landpfarrers, denen ich in meiner Heimat gelauscht hatte, waren Diebe und Gesetzlose allesamt zur Hölle verdammt, und gewiss wünschte uns jeder Bauer, Schäfer oder Reisende in der Umgebung dorthin. Zwar schauderte es mich bei diesem Gedanken, doch mehr noch bei der Erwägung dessen, was Warmund gesagt hatte: dass womöglich weder Gott noch der Teufel die Welt regierte und die Menschen mit ihren Bedürfnissen, ihrem Hunger, ihrer Lust und ihrem Leid jeder auf sich gestellt waren. Die Vorstellung, dass es womöglich gar keine höhere Gerechtigkeit gab, schien mir kälter und grausamer als die Erwartung, von der weltlichen Gerichtsbarkeit ereilt zu werden. Ja, der Schrecken des Galgens verblasste
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