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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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vor dem trostlosen Weltbild, das Warmund mir entwarf.
    Es hätte wenig Sinn, mein Sohn, wollte ich dir von jeder Schandtat berichten, die ich gemeinsam mit meinen Kumpanen beging. Der zweite Winter kam, und auch der dritte und vierte; mein junger Leib, endlich von kräftiger Nahrung zum Wachsen ermutigt, dehnte und streckte sich. Ich wurde dreizehn Jahre alt, und ich wurde fünfzehn und siebzehn, bis ich eines Tages feststellte, dass ich den Kopf einziehen musste, um die niedrige Seitentür der Mühle zu durchschreiten. Da es im Haus keinen Spiegel gab, war mir der Grad meiner äußerlichen Veränderung kaum bewusst, bis ich bemerkte, dass mir auf Kinn und Brust ein leichter Flaum spross. Längst war ich ein vollwertiges Mitglied in Bertolts Bande, trug einen Dolch im Gürtel und hatte mich an den regelmäßigen Genuss von Wein gewöhnt. Längst saß ich mit den anderen an dem runden Mühlstein, der ihnen als Tafel diente, längst erhielt ich meinen eigenen Anteil an der Beute und trug ein Obergewand aus gutem Wolltuch, um das wir einen Viehhändler erleichtert hatten.
    Von einer Raubtat jedoch will ich berichten, auch wenn es mich beim Gedanken daran schaudert. Es war kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag, als wir von unserem Aussichtspunkt einen Ochsenkarren beobachteten, der von zwei Männern die Straße hinab nach Süden gezogen wurde. Wie gewöhnlich wies Bertolt uns auf unsere Posten, und ich tauschte mein gutes Gewand gegen einen schäbigen Kittel, um erneut den Bauernburschen zu spielen, dessen Schwester in den Bach gefallen war.
    Als ich auf die Straße stürzte, stellte ich fest, dass die beiden Männer mit dem Ochsenkarren ebenso ärmlich gekleidet waren wie ich. Einer war noch ein Jüngling, der andere deutlich betagter, doch hatten beide die gleichen braunen Augen, was mich vermuten ließ, dass es sich um Vater und Sohn handelte. Ich rief mein übliches Sprüchlein, doch die beiden Männer sahen einander nur ratlos an. Dann sagte der Vater etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand.
    „Meine Schwester ertrinkt!“, wiederholte ich.
    „Sestra?“ , fragte der Mann stirnrunzelnd.
    Da ich begriff, dass die Fremden kein Deutsch sprachen, verlegte ich mich auf Gebärden und gestikulierte mit angstvoll verzerrtem Gesicht zum Wald hinüber. Die beiden Männer schienen immerhin zu verstehen, dass ich um Hilfe bat; jedenfalls wies der Vater den Sohn an, beim Wagen zu bleiben.
    Ich lief in den Wald bis zur verabredeten Stelle. Kaum war der Betrogene mir gefolgt, als Herbort und Burkhard aus dem Gebüsch sprangen, um ihn von hinten zu packen.
    „Ausziehen!“, zischte Herbort wie gewöhnlich und hielt dem Unglücklichen das Messer an die Kehle.
    Die Blicke des Mannes schossen erschrocken umher.
    „Er versteht unsere Sprache nicht“, sagte ich.
    „Bede!“, stammelte der Mann zitternd. „Bede!“
    „Was ist das für ein Kerl?“, zischte Herbort. „Flame? Däne?“
    „Nein, ein Wende“, ließ sich Bertolt vernehmen, der hinter einem Baum hervorgetreten war. „Diese Sprache habe ich schon einmal auf dem Markt gehört.“
    „Er hat keinen Geldbeutel“, meldete Burkhard, der den Kittel des Mannes abtastete. „Sollen wir ihn laufenlassen?“
    „Vielleicht hat der andere das Geld“, argwöhnte Herbort. „Wo ist er?“
    „Er wartet an der Straße bei seinem Karren“, sagte ich. „Ich glaube, er ist der Sohn dieses Mannes.“
    „Dann wird er erst recht nichts haben“, sagte Bertolt. „Was ist mit dem Karren? Welche Ladung?“
    „Obst und Gemüse“, antwortete ich.
    „Gütiger Gott!“ Bertolt lachte. „Ein wendischer Gemüsebauer – was für ein Fang! Lass ihn gehen, Herbort.“
    Der alte Wende jedoch, der den Stimmen der Männer angstvoll gelauscht hatte, wand sich plötzlich unter Herborts Griff und stieß einen lauten Ruf aus. Ich glaubte, mehrere Silben zu erkennen, die sich zu einem Namen fügten, und begriff: Er versuchte seinen Sohn zu warnen, der drüben an der Straße wartete.
    Im nächsten Moment zuckte Herborts Messer, und die Stimme des Mannes brach so plötzlich ab, als habe er seine Zunge verschluckt. Ein Strom von Blut tränkte den Kragen seines Kittels, und seine rollenden Augen erstarrten. Dann sackte er aus Herborts Armen und fiel zu Boden.
    „Was hast du getan?“, schrie Bertolt wütend.
    „Er wollte den anderen rufen!“, verteidigte sich Herbort, der mit dem blutigen Messer in der Hand dastand.
    „Wir bringen niemanden um!“, schimpfte Bertolt. „Das weißt du

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