Die Tränen der Vila
wendische Ochse macht unser Pferd ganz verrückt“, sagte er und nickte in Richtung des Stalls. „Wir sollten ihn schlachten.“
Bertolt schüttelte den Kopf. „Heute ist für einen Tag schon genug Blut geflossen. Hildegard soll sich um ihn kümmern.“
„Das tut sie bereits“, versetzte Herbort, „aber es klingt, als könnte sie Hilfe gebrauchen.“
Bertolt seufzte und wandte sich an mich. „Geh du zu ihr.“
Der Mond stand bereits am Himmel, als ich die Mühle umrundete und den Verschlag an der Rückwand aufsuchte. Darin standen das Pferd und die beiden Ziegen, die stampfend ihren Unmut über den neuen Wohnungsgenossen kundtaten. Hildegard hatte mit Hilfe einiger loser Bretter eine Nische abgeteilt und mühte sich, den Ochsen hineinzuzwängen, indem sie ihn an den Hörnern zog. Rasch sprang ich ihr bei, und gemeinsam gelang es uns, das störrische Rind an seinen Platz zu zerren.
„Ich danke dir, Odo“, sagte Hildegard und klopfte den Hals des Pferdes, das seinen ungebärdigen Nachbarn noch immer misstrauisch beäugte. „Warum schleppt Bertolt auch einen Ochsen an? Zu essen haben wir doch genug.“
Ich zuckte mit den Achseln, denn ich wollte ihr ungern eröffnen, dass unser heutiges Opfer ein armer Bauer und der Ochse vermutlich sein einziger Besitz gewesen war. Hildegard jedoch schien zu bemerken, dass ich ihrem Blick auswich, und ergriff mich beim Arm.
„Was ist geschehen?“, fragte sie. „Warum sind alle so schweigsam?“
Ich fühlte meinen Widerstand zusammenbrechen und entschloss mich, ihr die Wahrheit zu sagen.
„Es waren zwei Männer. Wenden. Vater und Sohn, glaube ich.“ Plötzlich spürte ich, wie meine Beine unbeherrscht zu zittern begannen, als hätte ich den ganzen Schrecken bis zu diesem Augenblick verdrängt. „Herbort hat sie beide umgebracht.“ Und bei diesen Worten flossen mir die Tränen.
Hildegard stand einen Moment lang reglos vor mir, als könne sie nicht glauben, was sie hörte. Dann trat sie auf mich zu, schloss mich in die Arme und barg meinen Kopf an ihrer Schulter.
„Oh, dieses Mannsvolk!“, zischte sie leise. „Wie oft habe ich Bertolt schon gesagt, dass er diesen Herbort zum Teufel jagen soll, wo er herkommt.“
„Wir haben bisher noch nie jemanden getötet“, sagte ich, wobei ich zu meiner Beschämung weinte wie ein Kind.
Hildegard drückte mich fest an sich. „Armer kleiner Odo“, sagte sie, und die Zärtlichkeit in ihrer sonst so forschen Stimme berührte mich tief. „Lass uns beten, dass dieser Halsabschneider keinen Fluch über uns alle bringt.“
Von dem fremden Mädchen – ein zweites Mal
An dieser Stelle will ich zu dem anderen jungen Wesen zurückkehren, in die Wälder auf der östlichen Seite der Elbe, an jenen Ort, den kein Christenmensch bisher betreten hatte.
Svetlana, genannt Lana, das Mädchen mit den dunklen Augen und der zierlichen Gestalt, war inzwischen sechzehn Jahre alt. Sie war klein geblieben und nur wenig gewachsen, allein ihr Haar war lang geworden und floss nun in solch üppigen Wellen über Schläfen und Schultern, dass sie es mit einem Stirnband zähmen musste. Erst vor kurzem hatte sie den Tag ihrer ersten Reinigung erlebt, zu dessen Feier sie ein neues Leinenkleid, einen Gürtel und ein paar kupferne Ringe erhalten hatte. Die Ringe hatte der Vater beim Dorfschmied anfertigen lassen und teuer bezahlt, was Lana tief rührte. Auch die Stiefmutter trug solche Ringe, denn sie gehörten zur Tracht der erwachsenen Frauen: Man befestigte sie seitlich am Stirnband, so dass sie über die Schläfen herabfielen und auf den Wangenknochen lagen.
Erwachsen zu sein bedeutete jedoch nicht nur, Gürtel und Kopfschmuck zu tragen, sondern auch, der Familie zur Hand zu gehen. Die schwere Arbeit auf den Feldern besorgte der Vater zusammen mit dem jüngeren Bruder Mstislav. Lanas Aufgabe bestand darin, sich um die Hühner und Schweine zu kümmern und beim Scheren der Schafe zu helfen. Von der Stiefmutter lernte sie, mit der Spindel Garn zu drehen, es mit knöchernen Schiffchen zu weben und aus den schmalen Stoffbahnen Hemden, Hauben und Jacken zu nähen. Meist taten sie dies gemeinsam und des besseren Lichts wegen draußen vor dem Haus. Manchmal gesellte sich der Großvater zu ihnen, der ein geschickter Schnitzer war und trotz seiner gichtigen Hände noch immer Löffel, Kämme und Ahlen herstellen konnte. Auch kümmerte Lana sich um den Garten, goss das Gemüse, jätete Unkraut, half beim Abernten der Obstbäume und am Abend bei der
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