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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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alle, indem sie auf zwanzig Schritte Entfernung einen Baumstamm traf. Sie mochte klein und den Jungen an Kraft unterlegen sein, das Zielen und Treffen jedoch glückte ihr mit einer Sicherheit und Geschmeidigkeit, die allen Bewunderung abnötigte. Stets verlangte sie nun beim Spiel diese Waffe, obwohl die Sjostjes bald zu murren begannen, da die Chancen ihrer Partei sich durch die gewandte Bogenschützin zunehmend verschlechterten. Wer nämlich vom Pfeil getroffen wurde, galt als gefallen, und so kam es bald immer häufiger vor, dass Lana die Gegner einen nach dem anderen fällte, bevor es überhaupt zum Handgemenge kam.
    Nun blieb das Treiben auf der Weide den Erwachsenen nicht lange verborgen. Die Männer, die auf den benachbarten Feldern arbeiteten, begnügten sich mit einem erstaunten Schmunzeln. Die Frauen jedoch starrten befremdet herüber und verbreiteten rasch die Kunde, dass das seltsame Mädchen mit den halbwüchsigen Jungen spielte. Am Ende kam die Geschichte auch einer Nachbarin zu Ohren, und diese erzählte es Lanas Stiefmutter Maika.
    Eines Abends nahm der Vater Lana beiseite und stellte sie zur Rede. Er war keineswegs zornig, denn er liebte die Tochter, die seine erste Frau ihm hinterlassen hatte. Dennoch verstörte ihn die Art des Spiels, denn anders als die Jungen besaß er wirkliche Erfahrung mit jenen Dingen, die sie in ihrer Arglosigkeit nachstellten.
    „Weißt du überhaupt, was ein Sjostje ist?“, fragte er Lana. Natürlich wusste sie es nicht, und so entschied er, ihr einen Teil seiner Lebensgeschichte anzuvertrauen.
    „Die Sjostjes“, erklärte er, „sind Menschen, die auf der anderen Seite des Flusses Elbe leben – dort, wo am Abend die Sonne versinkt. Sie sind ein kriegerisches Volk, von hohem Wuchs und grausamer Sinnesart. Sie beten nicht zu den Göttern, die uns heilig sind, weder zu Svarozic, dem Herrn des Himmelsfeuers, noch zu Ziva, der Spenderin der Fruchtbarkeit. Stattdessen huldigen sie nur einem einzigen Gott und einem Propheten namens Christus. Schon seit Jahrhunderten führen sie Krieg gegen uns, plündern unsere Dörfer und töten unsere Fürsten.“
    „Aber warum tun sie das?“, fragte Lana.
    „Ihr Gott, so behaupten sie, hat ihnen geboten, alle Völker zu vernichten, die andere Götter anbeten. Wo immer sie hinkommen, bauen sie Häuser, in denen sie Kreuze aufrichten, denn das Kreuz ist das Zeichen ihres Gottes. Alle Menschen sollen sich davor niederwerfen und es anbeten. Sie zerstören auch unsere Tempel, brennen die heiligen Bäume nieder und zerschlagen die Götterbilder.“
    Lana lauschte erschrocken, denn von alldem hatte sie noch nie gehört.
    „Als sie das letzte Mal kamen, war ich etwa so alt, wie du es heute bist“, sagte der Vater. „Damals wohnte meine Familie nahe dem Ort Werle, weit im Osten. Die Sjostjes führten ein mächtiges Heer heran und zerstörten alle Siedlungen auf ihrem Weg, selbst den großen Tempel von Radegast. Auch das Dorf, in dem ich lebte, wurde überfallen und verheert. Von jenem Kampf hat dein Großvater sein steifes Bein, denn er versuchte meine Mutter zu beschützen. Die Kriegsknechte der Sjostjes nämlich fingen alle Frauen ein, rissen ihnen die Kleider vom Leib und taten ihnen Gewalt an. Danach wurden sie alle getötet – auch meine Mutter.“
    Lana schwieg betroffen.
    „Dein Großvater, meine Brüder und ich verbargen uns in den Wäldern. Nachdem die Sjostjes abgezogen waren, kehrten wir in unser Dorf zurück, verbrannten die Toten und bestatteten sie, wie der Brauch es verlangte. Unsere Häuser aber waren zerstört, unser Vieh geraubt und unsere Äcker niedergetreten, so dass es nichts mehr gab, wovon wir leben konnten. Darum zogen wir aus jener Gegend fort und ließen uns hier in diesem Dorf nieder. Es ist gut geschützt, denn die Wälder im Süden sind schwer zu durchdringen, und im Norden liegt, wie du weißt, das große Moor. Auch ist die Burg unseres guten Fürsten Niklot nicht weit entfernt, und er wird uns beschützen, wenn die Sjostjes wiederkommen.“
    „Werden sie denn wiederkommen?“, fragte Lana, die vor Schrecken und Staunen atemlos zugehört hatte.
    Der Vater nickte düster. „Sie kommen immer wieder, so wie die Flut am Meer, wie die Heuschrecken im Herbst oder die Wölfe im Winter. Doch ich bete zu den Göttern, dass ich es nicht mehr erleben werde – und auch dafür, dass du es nicht erleben musst.“
    Lana senkte beschämt den Kopf und dachte an das Spiel der Jungen, das ihr nun wie eine ahnungslose

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