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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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Zubereitung des Essens.
    Mit den gleichaltrigen Mädchen im Dorf hatte sie kaum Umgang. Zwar traf sie sie auf der Weide, beim Wasserschöpfen am Bach oder auf dem Dorfplatz, doch wurde sie selten gegrüßt, noch seltener angesprochen und niemals eingeladen, an ihren Spielen teilzunehmen. Viele der älteren Frauen im Dorf munkelten über ihre kleine Gestalt, die dunklen Augen und das tiefschwarze Haar. Womöglich, argwöhnten manche, sei sie ein Wechselbalg, den Divazena, die wilde Herrscherin der Wälder, heimlich gegen ein gewöhnliches Menschenkind ausgetauscht hatte.
    Der Zufall fügte es, dass Lana sich stattdessen den gleichaltrigen Jungen anschloss. Es gab nämlich eine Gruppe halbwüchsiger Burschen, die regelmäßig zum Hüten der Schafe auf die Weide geschickt wurden und diese Gelegenheit nutzten, um am Waldrand zu spielen. Auch Lanas jüngerer Bruder Mstislav gehörte zu ihnen. Freilich pflegten sie andere Spiele als die Mädchen: Statt den Ball zu fangen oder auf Steinen über das Wasser zu hüpfen, war ihr Spiel der Krieg. Stets teilten sie sich dergestalt auf, dass einige von ihnen heldenhafte Krieger mimten, während die Übrigen die „Sjostjes“ darzustellen hatten. Zwar wusste keiner von ihnen mit Genauigkeit zu sagen, was ein Sjostje war – jedenfalls aber etwas Böses, denn wenn sie rauften oder mit Stöcken fochten, kam es stets darauf an, dass die Sjostjes den Kampf verloren und mit triumphierendem Geschrei vertrieben wurden.
    Erstmals wurde Lana in dieses Spiel verwickelt, als sie eines Tages nach den Schafen auf der Weide sah.
    „Hab ich dich!“, schrie ein Nachbarjunge, der gerade einen Sjostje darstellte, packte sie von hinten unter den Achseln und versuchte sie fortzuschleifen.
    Lana, die nicht begriff, dass es sich um ein Spiel handelte, setzte sich erschrocken zur Wehr, und zwar mit einer Heftigkeit, die der Junge nicht erwartet hatte. Es gelang ihr, ihm ein Bein zu stellen, sich auf ihn zu werfen und ihn schließlich zu Boden zu ringen, bis er keuchend aufgab. Bebend stand Lana über ihm, die Fäuste in die Seiten gestemmt, während eine Strähne ihres schwarzen Haars ihr auf der schweißfeuchten Wange klebte.
    „Hurra! Ein Hoch auf die mutige Kriegerin!“, rief plötzlich eine Stimme, und als Lana aufblickte, sah sie die Jungen herbeieilen, die hinter einer Böschung in Deckung gelegen hatten. Nun schwenkten sie ihre Stöcke, Astgabeln und anderen Waffen und umringten jubelnd das wehrhafte Mädchen, das sich trotz seiner zierlichen Gestalt so mutig zu verteidigen wusste.
    „Das war wirklich eine Glanzleistung!“, sagte der älteste der Jungen. Lana kannte ihn vom Sehen: Er hieß Ladislav und war der Sohn des Bogenmachers im Dorf. „Wo hast du so zu kämpfen gelernt?“
    „Ich habe es nicht gelernt“, gab Lana zurück, während ihr Gegner sich mühsam erhob und Staub von seinem Leibrock klopfte. „Ich habe mich einfach nur gewehrt.“
    „Bemerkenswert“, sagte Ladislav, der sie interessiert musterte. Lana hielt seinem Blick stand und strich sich trotzig die Haarsträhne aus dem Gesicht.
    „Wir könnten dich brauchen“, fügte er hinzu. „Hast du Lust mitzuspielen?“
    „Ich soll nur nach den Schafen sehen und muss gleich nach Hause zurück“, wich sie verunsichert aus.
    Ladislav grinste. „Dann komm doch morgen wieder!“
    Seit jenem Tag wurde Lana zum Mitspielen aufgefordert, wann immer sie zur Weide kam. Meist hatte sie eine Frau darzustellen, die von den Sjostjes überfallen wurde – denn so etwas taten die Sjostjes wirklich, wie Ladislav mit großem Ernst versicherte. Wenn sie ihnen dann zu entkommen versuchte, griff die Partei der mutigen Krieger ein, stellte die Verfolger zum Kampf und rettete die Heldin. Dabei tat sich besonders Ladislav als unerschrockener Recke hervor und forderte am Ende zuweilen einen Kuss für seine Dienste, den Lana lachend, wenn auch nicht ohne Verlegenheit gewährte.
    Auch den Bogen brachte Ladislav ins Spiel, denn sein Vater fertigte Jagdwaffen, so dass es ihm ein Leichtes war, einen ausgemusterten Rohling zu entwenden. Diesen bespannten die Jungen mit einer Flachskordel und übten sich im Verschießen stumpfer Stöcke, auf deren Enden Kugeln aus Wollfilz gepfropft wurden – was ihrem Spiel zusätzlichen Reiz und freilich auch manchem ein paar blaue Flecke einbrachte.
    Wie sich bald herausstellte, war Lana mit Abstand die Geschickteste im Umgang mit dem Bogen. Schon als Ladislav sie erstmals zu einem Versuch einlud, erstaunte sie

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