Die Tränen der Vila
meinen Kleinmut, und so schwang ich ein Bein über den Rücken des Pferdes und zog die Zügel an. Das Tier jedoch, das den ungeübten Reiter spürte, machte keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen.
„Los!“, schrie ich, als die drei Bewaffneten eben die Böschung oberhalb des Hauses erreicht hatten und den steilen Pfad herabschlitterten. Das Pferd warf den Kopf in den Nacken, dass mir die Mähne ins Gesicht flog, und schnaubte verängstigt.
Im selben Moment trat Hildegard wieder aus der Tür, einen blanken Dolch in der Hand. Als sie bemerkte, dass ich noch immer nicht vom Fleck gekommen war, schlug sie dem Pferd mit der freien Hand hart aufs Hinterteil. Es machte einen Satz und sprengte los, so dass ich nichts anderes tun konnte, als beide Fäuste um die Zügel zu krallen und mich tief im Sattel hinabzubeugen, um das Gleichgewicht zu halten. Dabei warf ich einen letzten Blick auf Hildegard: Sie stand breitbeinig vor der Tür, das grimmige Gesicht wie versteinert, die braunen Augen blitzend, den Dolch gereckt. Es war das letzte Mal, dass ich sie lebend sah.
Im nächsten Augenblick verfiel das Pferd in Galopp und trug mich geradewegs auf die Männer zu, die eben den Boden der Klamm erreicht hatten und erschrocken zurücksprangen. Einer der Knechte schwang sein Schwert und verfehlte knapp meine Hüfte; der zweite schrie auf und taumelte gegen die Hauswand, um den fliegenden Hufen auszuweichen. Dann bog das Pferd um den vorderen Giebel, entschwand aus ihrer Reichweite und trug mich in raschem Lauf davon.
Ich ritt nahezu eine Stunde lang, ohne der Stute auch nur im Mindesten Richtung oder Tempo vorgeben zu können. Sie galoppierte am Bach entlang, bis die Böschungen niedriger wurden und schließlich ganz zurücktraten. Dann überquerte sie eine Lichtung, fand von selbst einen schmalen Fußpfad und verfiel in mäßigen Trabschritt. Der Pfad verlor sich am Rand eines Moors, wo wilde Wacholderbüsche in der Heide standen. Hier endlich hielt das Tier inne, senkte den Kopf und suchte mit der Schnauze den Boden ab, um schließlich seelenruhig zu grasen.
Ich glitt von seinem Rücken und sank haltlos ins Gras, denn meine Beine waren schwach und zittrig. Für eine geraume Weile war ich nicht in der Lage, etwas anderes zu tun, als dazuliegen und zu warten, dass mein wild klopfendes Herz sich beruhigte. Dann setzte ich mich auf, schob mich rücklings an den Stamm eines Baumes, schlang die Arme um die Knie und weinte.
Einen ganzen Tag verbrachte ich unter freiem Himmel. Erst am Abend ergriff ich das Pferd beim Zügel und trat den Rückweg an. Der Weg war weit, und dieser Teil der Wälder war mir kaum bekannt, so dass es Stunden dauerte, bis ich zum Klammtal zurückfand. Aus sicherer Entfernung beobachtete ich die Mühle und schlich schließlich unter größter Vorsicht näher. Das Haus war leer. Beide Türen standen offen, die Ziegen waren aus dem Stall verschwunden, und auch die Eichentruhe, in der Bertolt das Silbergeld aufbewahrt hatte, stand nicht mehr an ihrem Platz. Ich fand kein Anzeichen, dass einer meiner Gefährten hierher zurückgekehrt war. Entweder waren sie alle gefangen genommen worden, oder sie verbargen sich fernab in den Wäldern.
Ich verließ das Haus, nachdem ich ein wenig Gemüse aus der Vorratsgrube entwendet hatte, und bezog Wache auf einer Anhöhe nördlich des Tals. Hier verbrachte ich drei Tage, lebte mehr schlecht als recht von der kargen Verpflegung, spähte zum Haus hinunter und wartete. Doch niemand ließ sich blicken. Am Ende beschloss ich, der Mühle den Rücken zu kehren und herauszufinden, was aus meinen Gefährten geworden war. Zu diesem Ziel aber sah ich nur einen einzigen Weg: den nach Hermannsburg.
Zunächst traf ich jede mögliche Vorkehrung, um zu verhindern, dass ich in der Stadt Aufsehen erregte. Ein letztes Mal schlich ich hinab zur Mühle, tauschte meine Kleidung gegen einen Kapuzenmantel, der Warmund gehört hatte, schnürte ein Bündel mit Vorräten und versah mich mit Zunder und Flintstein. Dann ging ich zur Straße, wobei ich das Pferd am Zügel führte.
Noch nie hatte ich die Stadt besucht, doch war mir die Richtung bekannt, die meine Gefährten bei ihren Marktbesuchen eingeschlagen hatten. So wanderte ich, bis der Wald sich lichtete und in Heideflächen überging. Hier und dort duckte sich die niedrige Kate eines Schäfers in den Schatten der Bäume. Bevor ich auf die ersten Menschen traf, beschloss ich, mich des Pferdes zu entledigen, auf dem ich bei meiner Flucht
Weitere Kostenlose Bücher