Die Tränen der Vila
trabte zwei Schritte auf mich zu und schob seine Kapuze zurück, unter der ein schmales Gesicht mit blondem Bart zum Vorschein kam.
„Ich bin Ludolf, Vogt von Hermannsburg“, sagte er. „Wo sind deine Kumpane?“
Als er so vor mir stand und von der Höhe des Pferderückens auf mich herabsah, ergriff mich panische Furcht, so dass ich vernunftlos und ohne alle Überlegung handelte: Mit einem Aufschrei fuhr ich herum, rannte in den Wald zurück und schlug den Weg zu ebenjener Stelle ein, wo Bertolt und die anderen warteten. Der Reiter hinter mir brüllte einen Befehl, und aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie sämtliche Fässer auf der Ladefläche des Fuhrwerks sich zu regen begannen. Die Deckel wurden von innen aufgestoßen, und ein lautes Geschrei vieler Stimmen erhob sich. In den Fässern waren Kriegsknechte verborgen gewesen, die nun aus ihren Verstecken hervorbrachen und vom Wagen sprangen, um die Verfolgung aufzunehmen.
Ich rannte, als sei der Teufel hinter mir her, und da ich weder durch Rüstung noch Waffe behindert war und zudem einigen Vorsprung hatte, waren die Männer des Vogts noch weit hinter mir, als ich den Treffpunkt erreichte.
„Soldaten!“, schrie ich atemlos. „Es ist eine Falle!“
Bertolt sprang hinter einem Baum hervor, während die Übrigen sich verwirrt aus dem Gebüsch erhoben. Herbort reagierte als Erster und zog seinen Dolch.
„Lauft!“, brüllte Bertolt. „Verteilt euch!“
Alle stoben in verschiedene Himmelsrichtungen auseinander, gerade als die nietenbeschlagenen Ledermäntel der Kriegsknechte zwischen den Bäumen auftauchten.
„Odo!“, schrie mir Bertolt zu, während er sich quer durch ein Farndickicht schlug. „Lauf zur Mühle und warne Hildegard!“
Ich rannte los, wandte mich nach Osten, wo unser Schlupfwinkel lag, und verlor die anderen rasch aus den Augen. Fern hinter mir hörte ich brechende Zweige und raschelndes Gestrüpp, dann einen dumpfen Schlag und einen Schrei – ich wagte nicht, mich umzuwenden, doch in meinem Geist spielten sich schreckliche Szenen ab. Womöglich war einer meiner Kameraden von den Männern des Vogts eingeholt worden.
Als ich die Böschung erreichte, die sich über dem Mühlenbach wölbte, kam mir die Idee, im seichten Wasser weiterzulaufen, um keine Fußspuren zu hinterlassen. So sprang ich hinab und rannte über Kiesel und treibende Blätter gegen die Strömung, während die Gischt um meine Füße spritzte. Doch es war vergebens. Als die Mühle in Sicht kam, hörte ich rauhes Geschrei, wagte einen Blick zurück und musste zu meinem Entsetzen feststellen, dass drei der Kriegsknechte mich erspäht hatten und mir oben auf der Böschung nachsetzten. Zwar hatte ich einigen Vorsprung, doch ich war nun in dem engen Tal gefangen, dessen hohe Lehmwände ich nicht ohne Zeitverlust erklettern konnte. Verzweifelt verwandte ich all meine Kräfte darauf, rasch die Mühle zu erreichen.
„Odo!“
Das war Hildegards Stimme. Sie trat soeben aus dem Stall, blickte zuerst erschrocken auf mich, dann entsetzt hinauf zu den Männern, die mich verfolgten. Ein Korb mit Rüben, die offenbar für das Pferd bestimmt waren, fiel ihr aus der Hand.
„Soldaten!“, schrie ich, stolperte aus dem Wasser und rannte auf sie zu. „Es war eine Falle!“
Sie starrte mich an, das Gesicht weiß vor Schrecken. Als sie jedoch über meine Schulter zu den Kriegsknechten blickte, verengten sich ihre Augen, und ein Ausdruck grimmiger Entschlossenheit trat auf ihr Gesicht.
„Nimm das Pferd!“, zischte sie mir zu.
„Nein!“, begehrte ich auf. „Ich verlasse dich nicht!“
„Nimm das Pferd, bei allen Heiligen!“ Und sie stieß mich grob zur Tür des Stalls, wo die braune Stute unruhig mit den Hufen scharrte.
Niemals hatte ich das Reiten erlernt, und zudem kam mir die Vorstellung, Hildegard in der höchsten Not allein zu lassen, noch schrecklicher vor als die Erwartung eines aussichtslosen Kampfes. So wehrte ich mich verzweifelt, als sie mir die Zügel in die Hand zwang.
„Steig auf, in Gottes Namen!“, schrie sie.
„Komm mit mir!“, flehte ich und spürte, dass Tränen in mir aufstiegen.
„Gemeinsam sind wir zu schwer.“ Sie nahm mein Gesicht in beide Hände und zwang mich, ihr in die flammenden Augen zu sehen. „Geh, Odo!“, wiederholte sie, und als sie meine Tränen bemerkte, küsste sie mich flüchtig auf die Wange. Dann ließ sie mich los und stürzte zur Seitentür der Mühle, um im Innern des Hauses zu verschwinden.
Ihre Entschlossenheit vertrieb
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