Die Tränen der Vila
Tochter des Dorfältesten. Die Zuschauer – insbesondere die männlichen – hielten den Atem an, denn Nadevka war ein hübsches Mädchen, und beim Anblick ihres nackten Körpers, auf dem der Widerschein des Feuers spielte, weitete sich manches Augenpaar. Dies schien ihr keineswegs unangenehm zu sein, denn sie hielt den Kopf stolz erhoben und drehte sich elegant im Sprung. Ihr folgte Ladislav, inzwischen achtzehnjährig und ein stattlicher Bursche, ebenso schlank wie kräftig. Er flankte in so hohem Bogen über das Feuer, dass man deutlich sein Gemächt fliegen sah. Andere, besonders die älteren, waren zurückhaltender und hatten sich um eine kleine Feuerstelle versammelt, die eher einen langen Schritt als einen wirklichen Sprung erforderte. Lanas Eltern brachten den Ritus ohne auffällige Kunststücke hinter sich; ihnen folgte ein Greis, der sich erst nach einigen Anläufen überwinden konnte, und eine ältere Frau musste von zwei Mädchen mit angezogenen Knien über das Feuer hinweggetragen werden.
Als Lana bemerkte, wie Maika ihr einen mahnenden Blick zuwarf, überwand sie sich endlich. Sie war eine der Letzten, die sprang, und so war die Aufmerksamkeit groß, zumal sie erstmalig an dem Ritus teilnahm und noch keiner der Dorfbewohner sie bis dahin nackt gesehen hatte. Die jungen Mädchen warfen ihr abschätzige Blicke zu, und vor allem Nadevka musterte sie mit kritisch verschränkten Armen.
„Die schwarze Krähe!“, vernahm sie ihren Spitznamen irgendwoher aus der Menge.
Die Jungen dagegen waren still und beobachteten aufmerksam, wie sie auf das Feuer zuging. Was auch immer nämlich die Mädchen sagen mochten, in Wahrheit war Lana keine hässliche Krähe, sondern ein Wesen von fremdartiger Schönheit, kleingewachsen, doch von zartgliedriger Gestalt, mit geraden Schultern und sanft gerundeten Hüften. Dem jungen Ladislav stand vor Staunen der Mund offen, als sie leichtfüßig über das Feuer sprang, und selbst den Mädchen blieb ob der geschmeidigen Landung das gehässige Lachen im Halse stecken.
Lana war froh, die Aufgabe überstanden zu haben, und zog sich zum Rand des Platzes zurück, wo sie sich mit dem Rücken an einen Gartenzaun setzte. An dem, was nun folgte, wollte sie sich unter keinen Umständen beteiligen. Während nämlich erneut der Metkrug die Runde machte, sprachen Frauen und Männer einander an und fanden sich zu Paaren zusammen, die in Richtung der Kornfelder davongingen. Im Alltagsleben mochten die Sitten der Dörfler streng und die Ehebande heilig sein, in dieser Nacht jedoch war alles erlaubt und mehr noch: Es war geboten, als ein Opfer an die Mächte der Fruchtbarkeit. Jeder hatte einen Partner zu wählen – nicht den, mit welchem er im Ehebund lebte, sondern einen anderen –, um mit ihm draußen auf den Feldern den Beischlaf zu vollziehen. Dies war einer der Gründe, warum manche Eheleute das Fest herbeisehnten, um sich Abwechslung zu verschaffen, und erst recht wurde es von den jungen Männern und Frauen ungeduldig erwartet, da es die Gelegenheit zu ersten Erfahrungen bot.
Lana beobachtete, wie der Platz sich leerte. Auch ihre Eltern verschwanden, wobei sie im Halblicht des Feuers nicht mit Sicherheit ausmachen konnte, in welcher Begleitung sie davongingen. Bei den Jüngeren dauerte es lange, bis ein Paar zusammenfand, denn viele waren schüchtern und ungeübt in der Annäherung. Die schöne Nadevka war von einem ganzen Schwarm eifriger Verehrer umgeben, ließ jedoch am Ende alle stehen und näherte sich Ladislav. Dieser freilich wirkte abwesend und ging kaum auf ihre Ansprache ein – stattdessen ruhten seine Augen auf Lana, die in einiger Entfernung am Zaun saß und hoffte, dass niemand sie bemerkte.
Sie erhob sich, wandte dem Feuer den Rücken und verließ fluchtartig den Dorfplatz. Sie spürte das dringende Bedürfnis, sich zurückzuziehen, und da ihr kein anderer Ort einfiel, wählte sie den Weg hinab zum Bach, wo die große Buche stand. Hier war der Schein des Feuers nicht mehr zu sehen, und keine Geräusche waren zu hören als das Plätschern des Wassers und das Rauschen der Blätter. Lana atmete auf, ließ sich am Stamm des Baumes nieder, legte den Kopf in den Nacken und blickte zum Sternenhimmel empor.
„Svetlana?“
Sie erschrak, schlang die Arme um die Knie und spähte in die Dunkelheit. Schließlich erkannte sie Ladislav, der den Weg zum Bach herabkam und sich suchend umsah. Es dauerte einen Moment, bis er im schwachen Sternenlicht ihre zusammengekauerte Gestalt
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