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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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ich ein Knappe wurde
    Mein neuer Herr und ich waren den ganzen Tag lang gewandert, so dass es später Nachmittag war, als wir Lüneburg erreichten. Der Anblick der Stadt war überwältigend. Schon von weitem konnten wir den berühmten Kalkberg erkennen, einen massigen Kegel, der mehr als hundertfünfzig Ellen über das Umland aufragte. Auf ihm erhob sich die herzogliche Burg. Die Abendsonne ließ den mächtigen Wohnturm in ihrer Mitte leuchten, einen steinernen Quader, dessen oberstes Geschoss aus Holzfachwerk bestand und von einem Schindeldach mit mehreren Erkern gekrönt wurde. Rund um die Kuppe des Berges verlief eine Mauer, aus deren einzigem Tor eine Straße austrat und sich in mehreren Kehren die Hänge hinab bis in die Ebene wand. Etwa auf halber Höhe lag auf einem Felsvorsprung das Kloster Sankt Michaelis, darunter die eigentliche Stadt, aus der weithin sichtbar zwei Kirchtürme aufragten.
    Wir näherten uns der Stadt von Süden und durchquerten dabei die Siedlung der Salinenarbeiter. Ich staunte über die zahlreichen offenen Unterstände, in denen Männer an riesigen Eisenpfannen standen und Feuer schürten. Ritter Hartmann erklärte mir, dass man auf diese Weise Salz gewann. Rings um den Berg nämlich lagerten große Mengen von Steinsalz in der Erde, die sich mit dem Grundwasser vermischten. Die Salzlake stieg in eigens ausgeschachteten Brunnen hoch, wurde abgeschöpft und in die Siedepfannen geschüttet, wo das Wasser verdampfte und das Salz zurückblieb. Salz war ein begehrtes Handelsgut, und so nahm es nicht wunder, dass rund um die Werkstätten eine ganze Siedlung emporgewachsen war.
    Durch ein Tor gelangten wir schließlich in die eigentliche Stadt, und Hartmann stieg vom Pferd, um es am Zügel durch die Straßen zu führen. Der Marktplatz hatte sich bereits geleert, und die letzten Händler bauten eben ihre Stände ab. Dem Ritter jedoch stand der Sinn ohnehin nicht nach Obst oder Gemüse; stattdessen fragte er vorübergehende Stadtbürger, wo ein Bäcker und ein Metzger zu finden seien. Man wies uns den Weg zu einer Backstube.
    Hartmann ließ das Pferd in meiner Obhut, bedeutete mir zu warten und kaufte mehrere Weizenbrote. Danach suchten wir einen Metzger auf, bei dem wir haltbares Rauchfleisch und einige Würste erstanden.
    Wir konnten nicht umhin, uns sogleich über einen Teil der Vorräte herzumachen, denn wir waren acht Stunden lang gewandert und entsprechend hungrig. Also ließen wir uns an der Innenseite der Stadtmauer nieder, verzehrten zwei der Würste und teilten uns ein Brot.
    „Das macht durstig“, sagte der Ritter und wischte sich den Mund. „Wir sollten ein Wirtshaus aufsuchen.“
    „Werden wir dort übernachten?“, fragte ich.
    „Nein, die städtischen Herbergen sind furchtbar“, meinte Hartmann. „Man schläft mit zwanzig anderen Kerlen im selben Raum, holt sich Wanzen und Läuse und muss froh sein, wenn man nicht bestohlen wird. Wir werden die Stadt zur Nacht verlassen. Sicher finden wir einen Bauern, der zwei Pilger beherbergt.“ Er erhob sich. „Aber vorher jedoch müssen wir noch für deine Ausstattung sorgen. Komm, ich habe vorhin im Vorübergehen die Werkstatt eines Sarrockmachers gesehen.“
    Ich folgte ihm durch die Straßen, und tatsächlich fanden wir das Haus eines Handwerkers, der mehrlagige Gewänder aus Wolltuch herstellte, wie sie von Kriegern getragen wurden. Der höfliche ältere Mann bat uns herein und rief sogleich nach seinem Sohn, der auf die Straße hinauseilte, um Hartmanns Pferd zu bewachen. Ich fühlte mich recht verlegen, während der Ritter mich als seinen Knappen vorstellte und einen Sarrock für mich verlangte.
    „Gewiss, Herr“, sagte der freundliche Handwerker und maß mich mit sachkundigem Blick vom Kopf bis zu den Füßen. „In sechs Tagen könnt Ihr das Gewand abholen.“
    „Sechs Tage?“ Hartmann lachte. „Das ist unmöglich, ich brauche es noch heute! Wir sind auf dem Weg zur Ertheneburg, um am Kreuzzug des Herzogs teilzunehmen.“
    Der Mann bekreuzigte sich ehrfürchtig und murmelte: „Gelobt sei Jesus Christus.“
    „Hast du nicht ein fertiges Gewand, das ihm passen könnte?“, drängte Hartmann.
    „Ich will sehen, was ich tun kann“, antwortete der Sarrockmacher, verschwand im Nebenraum und rief einen Namen. Schritte tappten eine Stiege hinab, dann hörten wir leise Stimmen. Hartmann wartete geduldig, wobei er seinen Geldbeutel hervorzog, um die verbliebenen Münzen zu zählen. Schließlich kam der Handwerker zurück, ein

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