Die Tränen der Vila
langen Tisch, und Hartmann folgte ihm in gemessenem Abstand, wobei er mir zuzwinkerte. Auch ich trat näher, hielt mich jedoch hinter meinem Herrn, denn die Gegenwart so vieler Edler in kostbaren Gewändern schüchterte mich gehörig ein.
„Dies ist Hartmann, ein fahrender Ritter aus Franken“, wandte sich der Herzog an die Runde. Dann begann er, in knappen Worten die wichtigsten seiner Berater vorzustellen, die am Tisch versammelt waren. Hartmann neigte bei jedem Namen höflich den Kopf oder verbeugte sich sogar, wenn der Rang des Betreffenden es erforderte.
„Meine treuen Dienstmannen: Heinrich von Witha, Ludolf von Brunsvik, Gunzelin von Hagen. Adolf, Graf von Holstein und Stormarn. Konrad, Herzog von Zähringen und Rektor von Burgund.“
Letzteres galt einem ehrwürdigen Herrn von etwa fünfzig Jahren mit wettergegerbtem Gesicht.
„Die Fürsten unserer heiligen Kirche“, fuhr Herzog Heinrich fort, „Seine Hochwürden Hartwig von Stade, Domprobst zu Bremen. Seine Exzellenz Thietmar, Bischof von Verden. Und Seine allerhochwürdigste Exzellenz Adalbero, Erzbischof von Bremen und Hamburg.“
Dies galt dem gebrechlichen alten Mann, der auf einem Holzschemel saß und von zahlreichem Gefolge in Priestertracht umgeben war. Die hohe Bischofsmütze hielt er im Schoß, so dass die Nachmittagssonne seinen kahlen Schädel wie einen Spiegel glänzen ließ. Er mochte rund sechzig Jahre zählen und nicht bei bester Gesundheit sein, sein Blick jedoch war stolz und beinahe grimmig auf den Herzog gerichtet. Erst jetzt erinnerte ich mich der Geschichte, die mein Herr mir erzählt hatte: Dies musste derselbe Erzbischof sein, den Herzog Heinrich einst gefangen genommen und in Lüneburg festgehalten hatte.
Der Herzog nickte Hartmann zu, wie um anzudeuten, dass der Formalitäten Genüge getan sei. Dann wandte er sich wieder an seine Berater.
„Graf Adolf“, sprach er einen jungen Mann mit dunklem Kraushaar an, der ihm gegenüberstand. „Als Herr von Holstein habt Ihr stets in unmittelbarer Nachbarschaft der Wenden gelebt. Darüber hinaus seid Ihr, wie wir alle wissen, ein gelehrter Mann und in den geschichtlichen Wissenschaften bestens unterrichtet. Wollt Ihr uns an Eurem Wissen teilhaben lassen, damit wir den Gegner, den wir zu unterwerfen beabsichtigen, besser kennenlernen?“
Der Graf von Holstein nickte und wandte sich an die Runde. Er schien im gleichen Alter wie der Herzog zu sein, und ich fasste vom ersten Moment an Zutrauen zu ihm. Sein Gesicht wirkte ernst, doch klug, mit warmen hellbraunen Augen.
„Die Wenden“, begann Graf Adolf zu sprechen, „siedeln seit Hunderten von Jahren östlich der Elbe. Schon oft wurde versucht, sie durch Kriegszüge zu unterwerfen und ihnen das Wort Gottes zu bringen, so vor zweihundert Jahren von König Otto, der sie in einer großen Schlacht schlug. Damals wurde das Wendenland von der Elbe bis zur Ostsee unserem Reich als Markland eingegliedert. Man nannte es die Billungische Mark, denn ihr Herr war Graf Hermann aus dem Geschlecht der Billunger, den Otto zu seinem Verwalter in Sachsen ernannt hatte.“
„Mein Vorfahr!“, warf Herzog Heinrich stolz ein. „Das Land der Wenden ist also nach dem Erbrecht mein Eigentum!“
Er blickte mit einem fast herausfordernden Ausdruck in die Runde, als ob irgendjemand es wagen würde, seinen Anspruch in Zweifel zu ziehen.
„Leider hat Gott zugelassen“, fuhr Graf Adolf fort, „dass jenes Land wieder verlorenging. Die Wenden nämlich missachteten die Taufe, verehrten weiterhin ihre heidnischen Götzen und verschworen sich schließlich, die Herrschaft des Kreuzes abzuwerfen. Sie zogen vom einen Ende ihres Landes zum anderen, um die Kirchen niederzubrennen, und alle Priester, deren sie habhaft werden konnten, wurden unter schrecklichen Martern getötet. In Oldenburg, so heißt es, erlitten sechzig Priester samt ihrem Probst das Martyrium, indem die Wenden ihnen kreuzförmig den Schädel aufschnitten, um das Zeichen unseres heiligen Glaubens zu verhöhnen. So fielen die Wenden ins Heidentum zurück, und seit jener Zeit haben sie weder die Herrschaft sächsischer Fürsten noch die des Kreuzes geduldet. Jedes Mal, wenn einer ihrer Anführer die Stimme Gottes hörte, verstießen sie ihn oder töteten ihn sogar. So geschah es zum Beispiel mit einem Wendenfürsten, der zur Zeit meines Vaters das Christentum annahm und sein Land für Priester und Mönche aus dem Westen öffnete. Seinen Wohnsitz wählte er an jenem Ort, den die Wenden Liubice
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