Die Tränen der Vila
Schlachtross, aber es wird dich tragen und einen guten Teil unseres Gepäcks dazu. Steig auf!“
Obwohl der Schimmel viel kleiner war als Hartmanns hochbeiniges Ross, hatte ich größte Mühe, auf den ungesattelten Rücken zu klettern. Hartmann half, indem er mich beim Fuß packte und nachschob, bis ich aufrecht saß.
„Keine Angst, das ist ein friedliches Tier“, ermutigte er mich. „Sieh doch, es steht ganz still.“
„Wie bringe ich es zum Laufen?“, fragte ich. Immerhin war ich erst ein einziges Mal geritten, und damals hatte ich kaum mehr tun müssen, als mich festzuhalten.
„Kneif kurz die Schenkel zusammen“, riet Hartmann.
Und tatsächlich: Kaum hatte ich ein wenig Druck mit den Beinen ausgeübt, setzte sich das Tier in Bewegung, und als Hartmann seinen Braunen antrieb, fanden beide Pferde sofort in den gleichen Schritt. Das Wandern hatte mir zwar nichts ausgemacht, nun aber stellte ich fest, dass es höchst angenehm war, sich auszuruhen und den Blick aus einiger Höhe über die Landschaft schweifen zu lassen. Ein Beobachter mochte mich nun tatsächlich für einen Edelknappen halten: hoch zu Ross, im nagelneuen Sarrock, mit lederner Haube und dem Dolch im Gürtel.
„Herr?“, fragte ich zaghaft. „Wollt Ihr mir eine Frage gestatten?“
„Frag schon“, sagte Hartmann gelassen.
„Warum muss ich mich Odo von Altendorf nennen, wo ich doch eigentlich nur Euer Waffenknecht bin?“
Hartmann lächelte. „Das verstehst du noch nicht, Odo, denn du kennst die Welt der Edelleute nicht. Der Rang eines Ritters bemisst sich danach, wie groß sein Gefolge ist. Manche Ritter haben gar keine Knechte, andere nur einen einzigen; wieder andere führen ein ganzes Dutzend mit sich. Das kann ich mir natürlich nicht leisten – aber ein Edelknappe ist so gut wie ein Dutzend gewöhnlicher Knechte, denn er beweist, dass irgendjemand mich hoch genug schätzt, um mir seinen Sohn zur Ausbildung anzuvertrauen.“
„Aber das ist doch nicht wahr!“, stellte ich, wie mir schien, mit rechtschaffener Entrüstung fest.
„Wir können es wahr machen, du und ich“, versetzte Hartmann ungerührt. „Halte dich nur an unsere Verabredung und betrage dich so, wie sich ein Edler beträgt.“
Unterdessen setzten wir unseren Weg fort und erreichten schließlich eine weitere Stadt, nahezu ebenso groß wie Lüneburg. Der Ort hieß Bardenvik, war durch Erdwälle und Wassergräben befestigt und, wie ich bereits verschiedentlich gehört hatte, eine Grenzfestung zum Wendenland. Wir verließen ihn durch eines der östlichen Tore und überquerten auf einer hölzernen Brücke den Fluss. Das jenseitige Gebiet war nur spärlich bewaldet, und nachdem wir einige Stunden geritten waren, öffneten sich sumpfige Marschwiesen zu beiden Seiten des Wegs. Wir hatten das Umland der Elbe erreicht, jenes mächtigen Stroms, der das Reich des Kreuzes von den Ländern der Heiden trennte.
Bald überholten wir Gruppen wandernder Männer, die uns zumeist respektvoll aus dem Weg wichen, sobald sie die Hufe unserer Pferde hörten. Einige trugen Waffen und kriegsmäßige Kleidung, die meisten jedoch sahen aus wie einfache Landmänner und gingen barfüßig. Jeder Einzelne, ob Gewappneter oder Bauer, trug das weiße Stoffkreuz auf der rechten Schulter.
„Es kann nicht mehr weit sein“, meinte Hartmann, als wir eine Anhöhe hinaufritten und eine Wildente unmittelbar vor uns aus dem Gras aufflatterte. „Ich rieche Wasser.“
Und er hatte recht, denn als wir die Anhöhe überquerten, bot sich uns ein überwältigender Anblick: Keine zweihundert Schritte vor uns endeten die Marschwiesen, und dahinter schimmerte der Strom, in einem breiten Bett von Osten nach Westen fließend, größer als jeder Fluss, den ich zuvor gesehen hatte. Auf dem jenseitigen Ufer reckten sich bewaldete Hänge rund fünfundzwanzig Ellen in die Höhe, und auf der höchsten Erhebung thronte der Turm einer Burg. Die Straße, die sich vor uns zum Fluss hinabwand, endete an einem steinernen Steg, der wie eine ausgestreckte Zunge ins Wasser hinausragte. Von dort aus waren zwei Seile über die gesamte Breite des Flusses gespannt, zwischen denen eine Fähre verkehrte. Das diesseitige Ufer war voller Menschen, die sich zum Steg drängten und auf die Überfahrt warteten, darunter Bauern, Kriegsknechte, einige Berittene und sogar ein Ochsenkarren.
„Dort hinüber!“ Hartmann deutete auf eine Gruppe von Reitern, die sich nahe am Wasser auf dem steinernen Steg gesammelt hatten. Offenbar suchte
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