Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
Vom Netzwerk:
hatte er feuchten Lehm gestrichen und Grassoden aufgeklebt, so dass die geschlossene Abdeckung mit dem umliegenden Gebüsch verschmolz und selbst im hellsten Mittagslicht nicht zu erkennen war. Nun bestand er auf einer Erprobung des Verstecks, und auf seine Weisung musste die ganze Familie zusammenkommen, in möglichst kurzer Zeit in die Grube hinabklettern und sie von innen verschließen. Auch der Großvater musste mit. Der Vater hob ihn eigenhändig von seiner Bettstatt und nahm ihn auf den Arm wie ein Kind, was angesichts seines ausgemergelten Körpers keine große Kraft erforderte. In der Grube war es finster und eng, doch alle fanden Platz, und die Luft war sogar angenehm kühl, verglichen mit der Julihitze droben über der Erde. Der Vater zeigte sich zufrieden, entfernte die Abdeckung wieder und ließ alle hinausklettern.
    Zuerst hatte Lana gefürchtet, dass der Großvater bei dieser Übung Schaden leiden könnte, doch seltsamerweise schien das Gegenteil der Fall zu sein. Als er mit größter Vorsicht wieder auf seine Schlafstatt im Haus gebettet wurde, waren seine Augen offen, und er wirkte wacher als gewöhnlich. Sein Blick traf den seines Sohnes, und seine Lippen bewegten sich.
    „Was ist geschehen?“, flüsterte er.
    Alle erstarrten, denn er hatte seit Tagen kein Wort mehr gesprochen. Der Vater schien außerstande zu antworten. Maika jedoch ließ sich an der Seite des alten Mannes nieder und strich ihm über den kahlen Schädel.
    „Nichts“, sagte sie besänftigend. „Du bist nur müde.“
    „Warum waren wir draußen?“, brachte der Großvater mühsam hervor. Erneut suchte er den Blick seines Sohnes, und seine Augen flackerten angstvoll. „Sind es … die Sjostjes? Kommen sie wieder?“
    „Es ist nichts“, wiederholte der Vater nachdrücklich die Worte seiner Frau. „Wir wollten nur, dass du ein wenig frische Luft bekommst. Jetzt solltest du schlafen.“
    Der Großvater schloss gehorsam die Augen, und kurze Zeit später beruhigte sich sein Atem.
    Es wurde Abend, und der Rest der Familie verteilte sich zum Schlafen auf die niedrigen Wandbänke. Nur der Vater schlief nicht, sondern verbrachte den größten Teil der Nacht auf Wachposten im Garten.
    Gegen Mitternacht erwachte Lana und hörte, wie draußen ein schwacher Regen einsetzte und die Dachbinsen leise knistern ließ. In der Ferne glaubte sie das einsame Heulen eines Wolfes zu hören. Dann folgte ein Geräusch in unmittelbarer Nähe: ein Rascheln, ein Stöhnen, dann ein krächzendes Husten. Es kam von der Lagerstatt des Großvaters.
    Leise stand Lana auf, trat an seine Schlafbank und fand den alten Mann erneut wach. Im schwachen Mondlicht, das durch das Rauchloch ins Haus drang, glitzerten seine offenen Augen.
    „Wer ist das?“, flüsterte er mit rauher Stimme, als Lana sich an seiner Seite niederließ. „Smert?“
    Mit diesem Namen hatte er sie schon einmal angeredet – und nun, in der Stille und Finsternis der Nacht, begriff sie endlich, was er meinte. Smert war der Name des Todes. Sie erinnerte sich, dass die Großmutter ihr einst von dem weißgekleideten Mädchen erzählt hatte, das am Bett eines Kranken erschien. Falls er genesen sollte, stand sie am Fußende, am Kopfende hingegen, wenn er sterben würde. Sie schauderte. Hielt der alte Mann sie für die leibhaftige Todesbotin?
    „Großvater“, flüsterte sie eindringlich, um den Bann zu brechen, der sie mit plötzlichem Grauen umfangen hatte. „Ich bin es doch, Svetlana.“
    Die Lippen des alten Mannes bebten, dann jedoch fanden seine Augen die ihren, und sein Blick klärte sich.
    „Lana?“
    Sie nahm seine knotige Hand. „Ja, Großvater.“
    Endlich schien er sie sicher zu erkennen und seufzte erleichtert.
    „Lana“, raunte er. „Sag du es mir: Warum habt ihr mich nach draußen getragen und in eine Grube gelegt? Ich glaubte schon, ich sei gestorben, und ihr wolltet mich begraben.“
    „Nein, bei allen Göttern“, sagte sie und drückte seine Hand. „Die Grube ist nur ein Versteck.“
    Die Augen des Großvaters verengten sich. „Ein Versteck?“, stieß er hervor. „Warum müssen wir uns verstecken?“
    Lana zögerte, denn sie wollte ihn um keinen Preis in Aufregung versetzen.
    „Sag mir die Wahrheit“, bat er. „Svetlana, sag es mir: Kommen die Sjostjes?“
    Sie überwand sich und nickte. Der Großvater wandte die Augen zur Decke, und nun nickte auch er, langsam und finster wie jemand, dem eine unheilvolle Ahnung bestätigt wird.
    „Aber du brauchst keine Angst zu

Weitere Kostenlose Bücher