Die Tränen der Vila
„Was soll denn aus Großvater werden? Er kann doch nicht laufen.“
„Wir könnten ihn auf eine Strohmatte legen und ihn tragen“, überlegte Maika.
„Er würde die Reise nicht überleben“, ließ sich plötzlich der Vater vernehmen, dessen Miene wie versteinert wirkte. „Wir werden nicht zu der Burg gehen.“
Alle blickten ihn entgeistert an.
„Aber die Sjostjes!“, rief Maika.
„Diese Burg ist eine Todesfalle“, sagte der Vater. „Die Sjostjes werden mit Leitern und Rammböcken kommen – ich habe es damals bei Werle gesehen. Keine Festung kann ihnen trotzen. Großvater wäre der Erste, der mir zustimmen würde, denn er hat drei Kriege miterlebt.“
Der alte Mann auf der Bettstatt regte sich schwach, als ob er spürte, dass von ihm gesprochen wurde.
„Wenn die Sjostjes kommen“, fuhr der Vater mit düsterer Stimme fort, „gibt es nur eine Rettung: Man muss sich vor ihnen verstecken. Damals bei Werle sind wir in die Wälder geflohen, bis sie wieder fort waren.“
„Aber das wäre für Großvater genauso schlimm wie der Weg zur Burg!“, wandte Maika ein.
Der Vater nickte. „Und deshalb werden wir hierbleiben. Mögen alle anderen fortziehen, ich werde meinen Vater nicht den Unbilden einer Reise aussetzen.“
„Hierbleiben?“, schrie Maika, die die Beherrschung verlor. „Und was geschieht, wenn die Sjostjes kommen? Was ist mit den Kindern?“
„Die Sjostjes werden die Burg belagern“, sagte der Vater ruhig. „Es besteht gute Aussicht, dass sie nicht bis hierher vordringen. Die Burg liegt eine Tagesreise im Westen, und die Wälder im Umkreis sind dicht. Einer von uns muss stets an der Straße Wache halten und ein Signal geben, falls sich Feinde nähern.“
„Und was willst du dann tun?“, begehrte Maika auf.
„Dann werden wir uns in der Vorratsgrube hinter dem Haus verbergen, bis sie fort sind. Ich werde eine neue Abdeckung zimmern und sie mit Lehm und Grassoden belegen.“
„Aber –“
„Ich bin das Oberhaupt dieser Familie!“, sagte der Vater mit plötzlicher Strenge, die seine Frau zum Schweigen brachte. „Und ich sage, dass wir bleiben.“
Alle blickten ihn erstaunt an, denn so barsch hatte er bislang zu keinem von ihnen gesprochen. Danek, der Jüngste, starrte mit bebender Unterlippe auf seinen Vater, und auch Mstislav, der ältere Bruder, wirkte bedrückt.
Einzig Lana zeigte keine Regung. Auch ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, allein im Dorf zu bleiben, während alle anderen Familien fortzogen. Dennoch fühlte sie, dass ihr Vater tat, was ihm unausweichlich erschien. Ihre Blicke trafen sich, und Lana dachte an jene Dinge, die er ihr – und nur ihr – über seine Jugend, über die Sjostjes und über den Krieg erzählt hatte. Im Gegensatz zu den anderen verstand sie seine plötzliche Strenge: Sie war Ausdruck eines verzweifelten Mutes, der in ihrem Geist einen stummen Widerhall fand.
Noch am selben Tag rüstete der größte Teil der Dorfbewohner zum Aufbruch. Lana sah es, als sie zum Bach ging, um Wasser zu holen. Überall wurden eilig die Hütten ausgeräumt, Bündel geschnürt und Tiere von der Weide geholt. Manche Familien schlachteten kurzerhand ihr Federvieh, da das Fleisch leichter zu transportieren war als die lebenden Tiere. Einige Väter brachen sogar die Schwellen ihrer Haustüren aus dem Boden, um die hölzernen Schutzgeister mitzunehmen, die darunter vergraben waren.
Am Nachmittag brachen die Freiwilligen in westlicher Richtung zur Burg auf, unter ihnen Oleg, der Dorfälteste. Sechs Familien blieben im Dorf zurück, darunter diejenige Lanas. Niemand jedoch schien auf Dauer ausharren zu wollen, denn auch die Zurückgebliebenen trafen Vorkehrungen für den Abzug. Lana vermutete, dass sie in die Wälder aufbrechen würden. Werslav, der Bogenmacher, erschien sogar vor Lanas Elternhaus und führte ein langes und ernstes Gespräch mit ihrem Vater. Sie konnte nicht alles hören, was die beiden Männer sagten, doch verstand sie so viel, dass die anderen Familien einen schwer zugänglichen Ort in den Wäldern aufsuchen wollten. Lanas Vater jedoch schüttelte nur den Kopf und gab zu verstehen, dass er sich ihnen nicht anschließen würde.
Am nächsten Tag brach der Bogenmacher zusammen mit zwei anderen Familien auf. Lana fütterte im Garten die Hühner, und so konnte sie zusehen, wie die Nachbarn mit geschulterten Bündeln und beladenen Karren einherzogen, Rinder und Schafe am Kopfstrick und die kleineren Kinder an der Hand führend. Werslav wurde von seiner
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