Die Tränen der Vila
haben“, beeilte sie sich zu versichern. „Wir passen auf dich auf und beschützen dich.“
Der Großvater schüttelte schwach den Kopf. „Nein, Lana – du brauchst keine Angst zu haben. Ich weiß es. Glaub mir, die Sterbenden wissen viel, denn sie weilen schon halb in der Geisterwelt. Der Tod wird bald zu mir kommen ...“
Lana fühlte Tränen in sich aufsteigen, beherrschte sich jedoch um seinetwillen.
„... und nicht nur zu mir, auch zu den anderen. Nicht aber zu dir, Lana. Nicht zu dir.“
Und damit schloss er die Augen, atmete ruhiger und schien sich von ihr zu entfernen. Mehrmals noch sprach sie ihn an, doch er antwortete nicht mehr. Es war, als sei sein Geist nur für einen kurzen Moment in den Körper zurückgekehrt, um erneut in jene Zwischenwelt zu fliehen, von der er gesprochen hatte. Doch er war am Leben, denn er atmete, und seine Hand, die Lana noch immer in der ihren hielt, war warm.
Es war das letzte Mal, dass Lana mit ihm sprach. Dies soll keineswegs bedeuten, dass seine Krankheit ihn dahingerafft hätte, denn tatsächlich lebte er noch zwei volle Wochen. Es wäre ein Segen für ihn gewesen, auf seiner Bettstatt zu entschlafen, umsorgt von seinen Angehörigen – denn als der Tod schließlich kam, tat er es nicht in Gestalt eines schönen, weißgekleideten Mädchens, sondern in Gestalt des Hasses, der Unvernunft und blinden Raserei.
Wie der Kreuzzug begann
Mehrere Tage lang harrten wir im Heerlager aus, während weitere Hundertschaften von Kriegsknechten, Pilgern und Bauern sich einfanden. Das Wetter wurde trocken und heiß, die Sonne brannte, und Hartmann schickte mich oft zu einem nahen Bach, um seine Feldflasche zu füllen. Die meiste Zeit dösten wir im Schatten, sprachen wenig und beobachteten das Treiben im Lager.
Der letzte Tag war ein Sonntag und diente vor allem der geistlichen Rüstung des Heeres. Eine Gruppe von Priestern hatte sich eingefunden, um einen tragbaren Altar aufzustellen und das Hochamt unter freiem Himmel zu begehen. Auch Hartmann und ich schlossen uns der Menge an, deren Zahl in die Tausende ging. Als die Eucharistie an der Reihe war, formierten sich die Menschen zu langen Schlangen, während die Priester begannen, Hostien auszugeben und Kelche mit Wein zu füllen. Fast zwei Stunden lang standen wir an, und Hartmann murrte ungeduldig, bis wir endlich an der Reihe waren. Damit war die heilige Handlung jedoch nicht beendet, denn die Schlange bewegte sich weiter zum Altar, wo weitere Priester die Waffen segneten. Wer ein Schwert oder einen Dolch trug, zog die Klinge hervor und drückte sie gegen die Brust, und auch wir folgten diesem Beispiel. Die Worte der Priester waren kaum zu verstehen, da jeder zu einem anderen Teil der Menge sprach, so dass sie alle durcheinanderredeten. Nur in Satzfetzen vernahm ich, dass sie die Siege Josuas, Davids und anderer biblischer Helden über die Heiden beschworen.
„Einzig der Herr ist der rechte Kriegsmann!“, rief einer, und ein anderer beschwor den himmlischen Vater mit den Worten des Psalmisten: „Herr, vernichte meine Feinde um deiner Güte willen und bringe alle um, die mich bedrängen, denn ich bin dein Knecht! Mit Gott wollen wir große Taten tun, denn er wird unsere Feinde niedertreten!“
Als Hartmann und ich vorüberzogen, hielt einer der Priester uns an, denn er bemerkte, dass wir kein Kreuz auf unserer Kleidung trugen. Man brachte uns zu einer Gruppe von Männern, die gleichfalls noch nicht über das heilige Zeichen verfügten, und der Priester sprach das Kreuzzugsgelübde. Es war eine in vielen gewundenen Formulierungen schwelgende Frage, ob jeder der Anwesenden bereit sei, die Heerfahrt im Namen Christi anzutreten, bis zum Ende treu zu bleiben und, wenn es sich als nötig erwies, bis zum Tod gegen die Feinde Gottes zu kämpfen. „Ich gelobe es“, antworteten alle Versammelten, unter ihnen Hartmann und ich, während Knechte mit weißen Stoffkreuzen herbeieilten und sie mit groben Nadelstichen an den Schultern unserer Gewänder befestigten.
Als die Menge sich endlich zerstreute, war es bereits Nachmittag, und wir kehrten zu unserem Lagerplatz zurück. Hartmann warf sich sogleich auf seine Schlafmatte und griff nach der Feldflasche, um sie bis auf den letzten Tropfen zu leeren.
„Wir brauchen Wasser“, sagte er. „Geh und füll die Flasche.“
Ich gehorchte, nahm die lederne Flasche entgegen und machte mich auf den Weg. Als ich das Lager durchquerte, staunte ich, wie rasch die Menschen von der heiligen
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