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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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Frau begleitet, die einen weinenden Säugling an der Brust trug; ihnen folgten zwei Töchter und der älteste Sohn Ladislav.
    Letzterer hielt inne, als er den Gartenzaun passierte, warf einen ängstlichen Blick auf seinen Vater, schien sich ein Herz zu fassen und kam schließlich zu Lana herüber.
    „Ihr bleibt hier, nicht wahr?“, flüsterte er so leise, dass seine Eltern es nicht hören konnten.
    Lana nickte. „Mein Großvater ist sehr krank. Wir könnten ihn nicht mitnehmen.“
    „Ich würde am liebsten zur Burg gehen und mich den Kriegern anschließen“, sagte Ladislav, „aber mein Vater will es nicht. Stattdessen gehen wir in die Wälder. Das Versteck liegt weitab von jeder Straße nördlich des Moors, vier Wegstunden von hier.“
    Er warf einen raschen Blick über die Schulter, bemerkte, dass sein Vater mit strengem Blick zu ihm herübersah, und wand sich unbehaglich.
    „Hör zu!“, flüsterte er und beugte sich über den Gartenzaun, um nahe an Lanas Ohr zu sprechen. „Ich habe dir den Bogen und ein Bündel Pfeile hier gelassen – du weißt doch: den Bogen, mit dem du so gut schießen konntest. Er liegt unten am Bach hinter der alten Buche.“
    „Ladislav!“, rief sein Vater ungeduldig.
    Der junge Mann zuckte zusammen und verstummte. Er wechselte einen letzten Blick mit Lana, dann machte er gehorsam kehrt, um sich wieder den Seinen anzuschließen. Lana blickte ihnen nach, während sie zum Dorfausgang zogen und im Schatten des Waldes verschwanden.
    Wenige Tage später gingen auch die letzten Familien, um den Zufluchtsort im Moor aufzusuchen, und nun war das gesamte Dorf verlassen. Die Hütten standen leer wie offene Scheunen, die Obstbäume in den Gärten waren abgeerntet und nackt, die leeren Vorratsgruben gähnten wie Gräber. Kein Hund bellte, kein Schaf blökte, und selbst das Geschnatter des Federviehs war verstummt.
    Einzig Lanas Elternhaus blieb von Leben erfüllt. Die Kinder kümmerten sich abwechselnd um den Großvater. Die meiste Zeit schlief er, und wenn er wach war, gab er kaum zu erkennen, dass er ihre Anwesenheit bemerkte. Zwar schluckte er gehorsam den Brei, den Lana ihm in den Mund löffelte, doch er sprach nicht, und seine Augen flackerten unruhig hin und her, als ob er etwas suchte, das er nicht finden konnte. Ein einziges Mal nur sah er Lana direkt an und flüsterte einen Namen – jedoch nicht den ihren, sondern einen anderen, den sie noch nie gehört hatte. Womöglich, dachte sie schaudernd, umschwebten ihn bereits die Geister der Toten und riefen ihn mit Stimmen, die er deutlicher wahrnahm als die der Lebenden ringsum.
    Währenddessen arbeitete der Vater an der Grube, die der Familie im Notfall als Versteck dienen sollte. Maika kümmerte sich um das Essen, und der zwölfjährige Mstislav verbrachte den größten Teil des Tages am westlichen Dorfausgang, um Wache zu halten und in eine knöcherne Pfeife zu blasen, falls sich Fremde näherten. Folglich blieb es Lana überlassen, die Tiere zur Weide zu führen, und meist blieb sie einige Zeit bei ihnen, um mit sich und ihren Gedanken allein sein zu können. Einen dieser Ausflüge nutzte sie, um die alte Buche am Bach aufzusuchen, denn sie dachte an das, was Ladislav ihr gesagt hatte – und tatsächlich fand sich der Bogen nebst einem Bündel gefiederter Pfeile im Unterholz hinter dem Baum versteckt.
    Sie verstand, warum Ladislav ihr die Waffe zurückgelassen hatte, und empfand eine gewisse Rührung. Offenbar hatte er ihre einstigen Spiele nicht vergessen und glaubte womöglich, es würde der Tag kommen, an dem sie sich gegen wirkliche Gegner verteidigen musste. Die Pfeile nämlich waren nicht stumpfe Stöcke wie damals, sondern sauber geschnitzte, schlanke Geschosse aus Buchenholz mit scharfen eisernen Spitzen.
    Natürlich war es unmöglich, den Bogen mit nach Hause zu nehmen, denn der Vater hätte nicht geduldet, dass ein Mädchen eine Waffe besaß. Vielleicht wäre es ihre Pflicht gewesen, ihm den Bogen zu übergeben – doch sie wusste, dass ihr Vater nicht damit umgehen konnte. Er war kein Krieger und hatte zeitlebens keine Waffe geführt, auch wenn er seit der Räumung des Dorfes stets die Axt griffbereit an der Haustür stehen hatte. So beschloss sie, den Bogen in seinem Versteck zu lassen.
    Ihr Vater hatte inzwischen seinen Plan in die Tat umgesetzt: In mühevoller Arbeit hatte er eine nicht mehr benutzte Vorratsgrube hinter dem Haus erweitert und eine Abdeckung gezimmert, die den Eingang fugenlos verschloss. Auf das Holz

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