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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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musste.
    „Für drei Pfennige werde ich dein Geheimnis für mich behalten“, flüsterte er.
    „Nein!“, begehrte ich auf. „Du kannst mich nicht verraten, Herbort! Dann würde jeder erfahren, dass auch du ein Räuber gewesen bist!“
    „Wie kommst du denn darauf?“, fragte er mit falscher Entrüstung. „Ich bin doch kein Räuber! Ich bin ein armer Landmann, den du einst mit deinen Kumpanen überfallen hast und der dich zufällig wiedererkennt.“
    „Das würdest du behaupten?“, fragte ich fassungslos.
    „Der Vogt hat nur dein Gesicht gesehen, nicht meines“, versetzte Herbort. „Bestimmt reitet er in diesem Heer mit, schließlich ist er ein Dienstmann des Herzogs. Er wird dich wiedererkennen, wenn ich dich bei ihm anzeige.“
    „Ich habe meine Schuld gebeichtet!“, brachte ich vor. „Und die Teilnahme am Kreuzzug tilgt alle Sünden.“
    „Nur vor Gott“, stellte er richtig. „Doch ich glaube nicht, dass dein Edelherr einen Knappen behalten will, der ein Räuber gewesen ist.“
    Ich bebte vor Angst, unfähig, mich zu beherrschen.
    „Also, wirst du mir die drei Pfennige bringen? Ich gebe dir eine Woche Zeit.“
    „Ich muss gehen“, stammelte ich, fand endlich den Mut, seine Hand abzuschütteln, und rannte zum Lager zurück. Herbort verfolgte mich nicht – offenbar glaubte er, mir hinlänglich Angst gemacht zu haben, um der Erfüllung seiner Forderung sicher zu sein. Dennoch drängte ich mich in größter Hast zwischen den Menschen hindurch, stolperte über ein ausgestrecktes Bein und hörte, wie eine betrunkene Stimme mir einen Fluch nachkeuchte. Als ich endlich vor Hartmann stand, lief mir der Schweiß über das Gesicht. Zum Glück hatte der Ritter sich auf seiner Schlafdecke ausgestreckt, blickte zum Himmel und nahm meine Rückkehr nur aus dem Augenwinkel wahr.
    „Odo! Wo bist du so lange gewesen?“
    „Ich habe mich auf dem Rückweg verirrt“, schwindelte ich. „Das Lager ist so unübersichtlich …“
    Hartmann streckte eine Hand aus, ohne mir das Gesicht zuzuwenden, und ich gab ihm die Feldflasche. Während er trank, ließ ich mich mit dem Rücken zu ihm nieder.
    „Die Sonne geht schon unter“, bemerkte er. „Wir sollten früh schlafen gehen.“
    „Sollen wir wieder abwechselnd ruhen, Herr?“, fragte ich, denn diesmal hatte ich ein begreifliches Interesse daran, unseren Lagerplatz nicht unbewacht zu lassen.
    „Ja, das sollten wir“, erwiderte Hartmann, verschränkte die Hände im Nacken und schloss die Augen.
    Die Nacht vor dem Aufbruch kam mir unendlich lang vor, und das nicht etwa, weil ich Angst vor dem Kriegszug gehabt hätte. Stattdessen beobachtete ich wachsam, wie die Menschen ringsum in Schlaf fielen, und hielt bangen Herzens Ausschau nach Herbort, der mir gewiss gefolgt war.
    Neben mir lag Hartmann in tiefem Schlaf. Der Geldbeutel hing an seinem Gürtel, und obwohl ich mich nie als Taschendieb versucht hatte, wäre es mir wahrscheinlich ein Leichtes gewesen, ihn zu öffnen und drei Pfennige zu stehlen. Ich wusste, dass er über einen ansehnlichen Silbervorrat verfügte, und womöglich hätte er das Fehlen der Münzen nicht einmal bemerkt.
    Doch vielleicht, so erwog ich, konnte ich Herborts Drohung entgehen, indem ich meinem Herrn vorausgreifend und freiwillig meine Vergangenheit eröffnete. Schließlich war Hartmann selbst nicht eben ein Muster an Tugend, und vielleicht würde es ihm gar nichts ausmachen, dass ich einst, unter dem Zwang von Hunger und Einsamkeit, mit Gesetzlosen zusammengelebt hatte.
    Andererseits jedoch war mein Herr eifrig darauf bedacht, seinen Ruf zu pflegen und beim Hochadel einen guten Eindruck zu machen. Hatte er mich nicht eigens zu diesem Zweck als Edelknappen ausgegeben? Wenn nun Herbort mich beim Vogt anzeigte und enthüllte, dass ich einst ein Dieb und zudem Abkömmling höriger Bauern war, würde Hartmann nichts anderes übrigbleiben, als sich von mir zu trennen. Und was würde dann geschehen? Sollte ich dem Kreuzzug als mittelloser Einzelgänger folgen, in der Gesellschaft von betrunkenen Kriegsknechten und Verbrechern wie Herbort?
    Ich kam zu keinem Schluss, und als der Mond nach Stunden hoch am Himmel stand, beschloss ich, wenn auch mit ungutem Gefühl, die Entscheidung einstweilen zu verschieben. Am Morgen würde das Heer aufbrechen, was bedeutete, dass ich an der Seite meines Herrn ritt, während das Fußvolk in angemessenem Abstand hinterdrein marschierte. Ich würde versuchen, Herbort aus dem Weg zu gehen. Dieser Gedanke beruhigte

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