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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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Spitze des Zugs spähten wachsam umher, und der Standartenträger hatte seine Fahnenstange gesenkt, damit das Banner des Kreuzes sich nicht an niedrigen Ästen verfing.
    Als der Wald in eine ausgedehnte Marschlandschaft überging, formierten die Reiter sich neu, und mein Herr nutzte die Gelegenheit, um wie zufällig zu Graf Adolf aufzuschließen, der erneut von Gunzelin begleitet wurde.
    „Seht!“, sagte Gunzelin soeben und deutete zum Himmel, wo der dunkle Umriss eines großen Raubvogels unter den Wolken schwebte.
    Graf Adolf beschattete die Augen mit der Hand. „Ein Seeadler“, erkannte er. „Diese Vögel brüten an den großen Seen im Land der Obodriten.“
    In diesem Augenblick ertönten Rufe von der Spitze des Zugs, und die vordersten Reiter hielten an.
    „Was gibt es?“, flüsterte Gunzelin.
    Graf Adolf reckte sich im Sattel, um seinem Vordermann über die Schulter zu blicken. Auch Hartmann und ich spähten nach vorn.
    Mitten in dem offenen Marschland erhob sich eine Gruppe von drei mächtigen Eichen mit knorrigen, vielfach ineinander verschlungenen Ästen. Ihre Stämme umschlossen einen offenen Platz, auf dem Nahrungsmittel abgelegt worden waren: Kornähren, Hühnereier, verschiedene Früchte, ein Stück Käse und sogar ein Napf, der offensichtlich Honig enthielt. Rund um den Platz verlief ein Zaun aus Holzlatten, deren obere Enden zu halbrunden Köpfen mit groben, bärtigen Gesichtern zurechtgeschnitzt waren.
    „Das ist ein wendisches Heiligtum“, erklärte Graf Adolf Gunzelin. „Sie verehren Bäume – vor allem Eichen – und bringen ihnen Opfergaben dar.“
    Zum selben Schluss schienen auch die Kirchenmänner gekommen zu sein, denn eben befahl Erzbischof Adalbero, seine Sänfte abzusetzen. Dann rief er mehrere Priester zu sich und wechselte leise Worte mit ihnen. Die Edlen schwiegen respektvoll, und selbst Herzog Heinrich wartete, stumm im Sattel sitzend.
    „Dies ist ein Ort des Götzendienstes!“, rief der Erzbischof schließlich mit weithin hörbarer Stimme. „Im Namen unseres Herrn Jesus Christus, berührt die Speisen nicht, sondern reißt den Zaun nieder und legt Feuer an diese Bäume, auf dass ihre verbrannten Stümpfe vom Sieg des Gekreuzigten über den Satan künden mögen!“
    Herzog Heinrich nickte, winkte mehrere Knechte herbei und befahl, ein Feuer zu entzünden. Einige der Männer näherten sich dem Heiligtum und begannen, mit groben Axtschlägen den Zaun umzuhauen. Andere ergriffen die herausgeschlagenen Zaunlatten und hielten sie ins Feuer, bis ihre geschnitzten Enden wie Fackeln loderten. Dann liefen sie zum Zaun, beugten sich hinüber und entzündeten alle erreichbaren Äste der drei mächtigen Eichen.
    Der Erzbischof hatte sich bei diesem Anblick aus seiner Sänfte erhoben, offensichtlich entschlossen, persönlichen Anteil an dem Zerstörungswerk zu nehmen. Gebieterisch streckte er die Hand aus, und einer der Knechte reichte ihm eine Fackel. Sein Leib mochte gebrechlich sein, doch heiliger Eifer verklärte seine greisen Züge. Als Einziger wagte er es, die Pforte im Zaun zu öffnen und den Kultplatz zu betreten. Als er eine Höhlung in einem der Baumstämme entdeckte, stieß er die brennende Fackel wie ein Schwert hinein, trat dann zurück und neigte den Kopf zum Gebet. Sämtliche Edlen im Umkreis senkten die Blicke und bekreuzigten sich.
    Es dauerte nahezu zwei Stunden, bis das Heiligtum vollständig niedergebrannt war. Eine lodernde Feuersäule umhüllte die drei Eichen; ihre Blätter verglühten zu Asche, und ihre verkohlten Äste brachen. Lediglich die Stämme, schaurige Skelette inmitten der Glut, hielten den Flammen noch stand. Inzwischen hatte der größte Teil des Heeres zu dem Ort aufgeschlossen, und Tausende von Menschen umringten dicht gedrängt, wenn auch in scheuem Abstand, den Scheiterhaufen. Als schließlich der Erzbischof wieder in seine Sänfte zurückstieg und die Priester ihre Gebete beendeten, gab Herzog Heinrich das Zeichen zum Aufbruch. Man ließ das Heiligtum brennen, und noch lange war die Rauchsäule zu sehen, während wir unseren Weg fortsetzten.

Wie wir das Leben des Grafen Adolf retteten
    Die Sonne stieg hoch über unsere Köpfe, brannte uns eine Zeitlang im Nacken und färbte sich schließlich rot. Die Straße, der wir noch immer folgten, war inzwischen nur mehr ein Pfad von wenigen Fuß Breite, und als sie erneut in den Schatten eines dichten Waldes eintauchte, gebot der Herzog Halt. Die Edlen sammelten sich, und auch Hartmann und ich schlossen

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