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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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mich wenigstens vorläufig, so dass ich noch ein wenig Schlaf fand, nachdem ich Hartmann wie verabredet um Mitternacht geweckt hatte.
    Bei Sonnenaufgang hallte der Ruf einer Trompete von der Burg herüber. Hartmann belud bereits die Pferde, als ich erwachte. Das Lager war in Auflösung begriffen. Allenthalben wurden die Zelte abgebaut, und das Fußvolk sammelte sich in großen Haufen.
    „Auf, Odo!“, rief Hartmann. „Du musst mir helfen, die Rüstung anzulegen.“
    Diesen Dienst hatte ich noch nie versehen, doch Hartmann erklärte mir geduldig, was ich zu tun hatte. Zuerst entledigte er sich des Waffengürtels, dann entfaltete ich das schwere Kettenhemd und half ihm, es über Kopf und Schultern zu streifen. Es bedeckte seinen Leib bis hinab zu den Waden und war vom Schritt abwärts geschlitzt, um ihm das Reiten zu ermöglichen. Dann galt es, den Gürtel erneut anzulegen, nun über dem Panzer, und zum Schluss kam die Kettenhaube hinzu, die den Kopf bedeckte und nur einen runden Ausschnitt für das Gesicht freiließ.
    „Du nimmst unser Gepäck und meinen Schild“, bestimmte Hartmann. „Häng ihn dir über den Rücken.“
    Inzwischen hatten sich die Tore der Burg geöffnet, und die Edlen ritten über den Dammweg heran. Vorneweg zog eine Gruppe von Priestern, deren Anführer ein Banner mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes führte. Vier weitere trugen den hölzernen Altar, der am Vortag für die Messe benutzt worden war und wahrscheinlich eine heilige Reliquie in seinem Innern barg. Ihnen folgte Herzog Heinrich, als Einziger mit einem roten Waffenrock über dem Kettenpanzer und einem prächtigen Helm, links neben ihm Konrad von Zähringen, zur Rechten der Bischof von Verden und der Domprobst von Bremen, beide in Reisekleidung und ohne geistliche Tracht. Lediglich der alte Erzbischof Adalbero wurde von sechs Männern in einer Sänfte getragen und hatte Soutane und Bischofsmütze angelegt. Vermutlich erlaubte sein Gesundheitszustand nicht, dass er zu Pferd reiste. Den Herzögen und Kirchenfürsten folgten die Grafen, und diesen wiederum die Ritter, edelfreie Vasallen und Dienstmannen mitsamt ihrem Gefolge, zusammen mehrere hundert Berittene. Erst als sie vorübergezogen waren, schloss sich das Fußvolk an; dann reihten sich Packpferde mit zerlegten Zelten und mehrere Planwagen ein, und ganz am Ende formierten sich die Bauern und Pilger.
    Wir stießen etwa auf halber Länge des Zugs zu den Rittern, doch mein Herr verstand es, sich allmählich in die vorderen Reihen zu drängen. Es war ein gutes Gefühl, in diesem dichtgedrängten Haufen aus Hunderten gerüsteter Krieger dahinzuziehen. Obwohl die Nähe so vieler Edler mich etwas beklommen machte, fühlte ich mich leidlich sicher und konnte mir kaum vorstellen, dass irgendein Feind es wagen würde, den Heereszug anzugreifen.
    Mehrere Stunden lang ritten wir in gemächlichem Tempo dahin. Der Heereszug bewegte sich nach Nordosten auf einer Straße, die zunächst über offenes Land führte, bald jedoch in den Schatten eines Waldes eintauchte und schmaler wurde, so dass nicht mehr als zwei Reiter nebeneinander gehen konnten. Dementsprechend zog der Tross sich in die Länge, und Hartmann nutzte die vorübergehende Unordnung, um sich bis auf wenige Schritte an den Grafen Adolf und einen seiner Begleiter heranzudrängen. So konnten wir hören, was die beiden sprachen.
    „Ist es nicht gefährlich, in so langer Reihe zu ziehen?“, fragte der Ritter, in dem ich Gunzelin von Hagen wiederzuerkennen glaubte, einen der Vasallen des Herzogs. „Bei einem seitlichen Angriff aus dem Wald könnten wir uns nicht einmal sammeln.“
    „Leider gibt es keinen anderen Weg“, antwortete Graf Adolf. „Aber ich glaube nicht, dass uns hier bereits Gefahr droht, denn wir haben das Land der Wenden noch gar nicht betreten. Dieser Wald ist der Limes Saxonicus, die Grenze zwischen ihrem und unserem Gebiet, und seine Unwegsamkeit ist beabsichtigt, denn er dient meinem Volk als Bollwerk. Die Länder südlich der Elbe sind durch den Fluss geschützt, doch Holstein, mein Land, grenzt direkt an die Wohnsitze der Wenden. Daher ist es verboten, hier Bäume zu fällen oder die Wege zu verbreitern.“
    „Und wenn wir den Wald durchquert haben, betreten wir das Wendenland?“
    „Nicht sofort, denn jenseits des Waldes erreichen wir zunächst die Polabische Mark, wo sich christliche Bauern aus Holstein, Westfalen und Niederland angesiedelt haben. Die Wenden in diesem Gebiet, die sich Polaben nennen, wurden

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