Die Tränen der Vila
Gottheiten?“
Der Graf schien keineswegs erstaunt über Hartmanns Interesse, sondern griff das Thema bereitwillig auf. „Nicht nur die Bäume“, sagte er. „Sie verehren auch Quellen, Flüsse, Steine und Berge. Die Zahl ihrer heiligen Orte ist groß und ebenso die Zahl ihrer Götter. Einige werden nur von bestimmten Stämmen oder den Bewohnern eines einzelnen Ortes angebetet.“
„Welch schauderhaftes Heidentum!“, rief Hartmann aus, vermutlich um seine fromme Gesinnung unter Beweis zu stellen.
„Es gibt jedoch auch Götter und Tempel, die allen Wenden heilig sind“, fuhr Graf Adolf fort. „Wahrscheinlich könnte ihr Aberglaube nur dann endgültig ausgerottet werden, wenn es gelänge, das große Heiligtum zu zerstören, das sich auf der Insel Rugien befindet.“
„Wo ist das?“
„Weit im Osten. Missionare haben davon berichtet – jedenfalls jene wenigen, die lebend zurückkehrten. An der Nordspitze der Insel gibt es eine Burg, die auf drei Seiten von der Steilküste und auf der vierten von einem Erdwall geschützt ist. Im Innern steht ein Tempel mit purpurnem Dach und darin eine Statue aus Eichenholz, die Svantevit, den höchsten aller wendischen Götter, darstellt. Es heißt, dass er vier Köpfe hat, deren jeder in eine andere Richtung blickt. Ein Hohepriester bringt ihm Opfergaben, vor allem Wein und Honigkuchen – wobei er die Luft anhalten muss, wenn er den Tempel betritt, weil sein Atem den heiligen Raum entweihen würde. Der Tempel soll große Macht besitzen. Dreihundert berittene Krieger dienen seinem Schutz, und alle wendischen Stämme senden Geschenke zur Mehrung des Tempelschatzes dorthin.“
„Seht, Herr!“, ließ sich in diesem Moment einer der holsteinischen Ritter vernehmen und deutete nach Norden. „Da vorn ist eine Bresche!“
Der Graf hieß den Mann, sich an die Spitze des Trupps zu setzen, und wir trabten bis zu einer Stelle, wo die Bäume weniger dicht standen. Tatsächlich führte dort eine breite Schneise durch den Wald. Glatte Kiefernstümpfe zeugten davon, dass hier vor nicht allzu langer Zeit Bäume gefällt worden waren.
„Hervorragend!“, sagte Hartmann. „Hier könnten sogar die Fuhrwerke passieren.“
Graf Adolf jedoch sah sich wachsam um. „Das riecht nach Gefahr. Wenn die Wenden hier kürzlich Holz geschlagen haben, dann können sie nicht allzu fern sein.“
„Wir sollten trotzdem prüfen, wie weit die Bresche in den Wald führt“, meinte einer der Ritter. „Wenn sie ganz hindurchgeht, ist das der beste Weg, den wir finden können – und wenn nicht, kann der Herzog sich die Mühe sparen, den ganzen Tross hierherzuführen.“
Graf Adolf nickte. „Gut denn. Bleibt eng zusammen und haltet die Augen offen!“
Also bogen wir nach rechts in den Wald und folgten der Schneise. Sie war breit genug, dass fünf Mann nebeneinander reiten konnten, und so formierten wir uns zu einem geschlossenen Block. In der vordersten Reihe ritt Graf Adolf, links von ihm trabten zwei seiner Ritter, zur Rechten Hartmann und ich. Die Sonne war fast versunken, so dass die Bäume zu beiden Seiten uns wie die schwarzen Klippen einer Schlucht einschlossen.
„Da liegt etwas quer über dem Weg“, sagte plötzlich einer der Ritter und zügelte sein Pferd. Im Dämmerlicht erkannten wir einen hüfthohen Schatten wie eine Barriere, die den Durchgang versperrte.
„Das sind umgehauene Bäume“, stellte Graf Adolf fest, lenkte sein Pferd näher heran und neigte sich aus dem Sattel, um das Hindernis zu inspizieren. Es waren fünf oder sechs Baumstämme, zu einem Haufen geschichtet, die von einer Seite des Wegs bis zur anderen reichten.
„Wir werden absteigen und sie forträumen müssen, wenn das Heer diesen Weg nehmen soll“, sagte der Graf unmutig.
Bei diesen Worten ergriff mich eine unheilvolle Vorahnung. Schon einmal hatte ich in der Dämmerung auf einem Weg gestanden, der mit Bruchholz versperrt war. Bertolt und seine Räuber hatten es aufgeschichtet, um Reisende aufzuhalten und sich hinterrücks an sie heranzupirschen, während sie es überstiegen.
„Das ist eine Falle!“, rief ich aus, außerstande, meine Angst zu beherrschen.
Alle wandten sich nach mir um, denn bisher hatte ich noch kein Wort gesprochen. Auch mein Herr blickte mich erstaunt an.
„Wie kommst du darauf?“
„Bitte, Herr“, wandte ich mich nicht an Hartmann, sondern direkt an den Grafen, „in Gottes Namen, lasst uns zurückreiten!“
Graf Adolf sah mir erstmals direkt in die Augen, und ich bemerkte,
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