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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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schon vor Jahren unterworfen und werden es nicht wagen, unseren Zug zu behindern. Jenseits von Racesburg aber betreten wir Feindesland, denn dort wohnt der wendische Stamm der Obodriten, deren Fürst Niklot ist.“
    „Ihr sagtet gestern, dass Ihr ein Friedensabkommen mit diesem Niklot hattet“, bemerkte Gunzelin.
    „Das ist wahr“, sagte Graf Adolf, „und ich fühle mich keineswegs wohl dabei, das Schwert gegen jenen Mann zu erheben, der bis vor kurzem mein Bundesgenosse war.“ Er seufzte. „Seit dieser Kriegszug geplant ist, frage ich mich, ob ich richtig handle.“
    Wir ritten den ganzen Tag lang, und erst gegen Abend lichtete sich der Wald. Bei Sonnenuntergang erreichten wir ein Dorf, das von holsteinischen Bauern bewohnt war. Offensichtlich war dieser Ort schon im Vorwege als Lagerplatz ausersehen worden, denn die Bauern bekreuzigten sich vor der Standarte der Priester und wiesen uns den Weg zu einem Brachfeld, wo das Lager aufgeschlagen wurde. Freilich folgten rund sechstausend Mann der Reitertruppe, und so blieb es nicht aus, dass auch die umliegenden Felder besetzt wurden und am Ende ein ganzer Ring von Zelten und Lagerfeuern das kleine Dorf einschloss. Die Einheimischen brachten Milch, Früchte und Brot zur Verpflegung des Heeres, wovon jedoch allein die Edlen profitierten, während nicht wenige der einfachen Krieger rohes Getreide von den Feldern aßen oder gar in die Gärten der Bauern eindrangen, um ihre Gemüsebeete zu plündern.
    Die Edlen hatten ihre Zelte in einem engen Kreis aufgeschlagen, und die meisten Ritter und Bewaffneten hielten sich in ihrer Nähe. Hartmann war es lediglich gelungen, einen Platz auf einer benachbarten Viehweide zu besetzen. Immerhin konnten wir unsere Pferde an der niedrigen Umzäunung anbinden, fanden uns jedoch abermals in nächster Gesellschaft zahlreicher Kriegsknechte, die neidisch auf unsere reichlichen Vorräte schielten. Mit gutem Grund bestimmte Hartmann, dass wir umschichtig wachen sollten, und schlief wie an den vergangenen Tagen nur die erste Hälfte der Nacht.
    Kurz vor Mitternacht gewahrte ich, dass ein Schatten sich der Weide näherte, geduckt dahinhuschend und sich in alle Richtungen umblickend. Im ersten Moment dachte ich, es handle sich um einen Späher des Feindes. Dann jedoch erkannte ich im Mondlicht das weiße Stoffkreuz auf der Schulter des Unbekannten. Dieser Anblick hätte mich eigentlich beruhigen müssen, doch kam mir ein beängstigender Gedanke: Womöglich war es Herbort, der nach mir suchte. Pirschte er sich im Dunkeln durch das gesamte Lager, um unter Tausenden nach mir Ausschau zu halten? Ich drückte mich tief in den Schatten eines unserer Pferde und bemühte mich, keinen Laut von mir zu geben. Zum Glück verschwand die Gestalt im Dunkeln, und ich atmete auf.
    Am nächsten Morgen bewegte sich das Heer in derselben Ordnung wie am Vortag weiter nach Osten. Gegen Mittag kreuzte die Straße einen Fluss, und kurz darauf erreichten wir erneut ein Dorf, dessen Hütten jedoch ganz anders aussahen als in der holsteinischen Siedlung. Sie waren kleiner, fast quadratisch und aus Holzbalken ohne Lehmfüllung erbaut. Die wenigen Menschen, die in den Gärten oder auf den Feldern standen, begrüßten uns nicht und bekreuzigten sich auch nicht vor der Standarte. Stattdessen zogen sie sich stumm in den Schatten ihrer Häuser zurück und beobachteten die langen Reihen gerüsteter Krieger mit einer Mischung aus Furcht und Argwohn. Den Gesprächen der Ritter entnahm ich, dass diese Menschen Polaben waren, Angehörige jenes unterworfenen wendischen Stammes, den Graf Adolf erwähnt hatte. Wir hatten also die Siedlungsgebiete der Heiden erreicht, und obwohl uns keine offene Feindseligkeit entgegenschlug, konnte ich spüren, dass die Führer unseres Zugs wachsamer waren als zuvor.
    In der folgenden Nacht rasteten wir auf freiem Feld, um früh am Morgen abermals aufzubrechen, einen weiteren Fluss zu überqueren und auf dessen östlichem Ufer in ein dichtes Waldgebiet vorzudringen. Die Landschaft war nun wilder und unwegsamer als je zuvor. Hohe Kiefern und Fichten ragten in den Himmel, und dichtes Unterholz wucherte am Weg, der immer schmaler und schlechter erkennbar wurde. Wenn der Wald sich einmal lichtete, erschienen keine Wiesen und Felder mehr, sondern düstere Moorlandschaften. Kiebitze flogen auf, um die vordersten Reiter hoch in der Luft zu umkreisen und schrille Warnrufe auszustoßen. Die Edlen hielten ihre Waffen griffbereit. Selbst die Priester an der

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