Die Tränen der Vila
Grabens. Sie flohen in wilder Hast, so dass nicht wenige niedergetreten wurden. Als die Überlebenden sich in Sicherheit gebracht hatten, bot das Schlachtfeld einen entsetzlichen Anblick: Am Wall hingen noch die Leitern, teilweise verrutscht oder umgeschlagen, und am Boden darunter türmten sich Haufen von leblosen Körpern. Auch die Brücke war voller Leichen, und viele trieben bäuchlings im Wasser.
Der Herzog gab Befehl, zum Lager zurückzukehren, und so brachen die Berittenen auf und zerstreuten sich in gedrückter Stimmung, während das kampfgezeichnete Fußvolk hinterdreintrottete. Der Angriff hatte kaum eine Stunde gedauert, doch die Nachwirkungen bekamen wir noch bis zum Abend zu spüren: Überall im Lager stöhnten und schrien die Verwundeten, Pfeile wurden aus lebendem Fleisch gezogen, Wunden ausgebrannt und sogar Glieder amputiert.
Am Abend wurden die Edlen zu einer erneuten Beratung zusammengerufen, und es verstand sich mittlerweile von selbst, dass auch Hartmann und ich uns anschlossen. Der Herzog wirkte verschlossen und starrte die meiste Zeit über die Köpfe der Versammelten hinweg zur Burg hinüber. Statt seiner ergriff Graf Adolf das Wort.
„Nach unseren heutigen Erfahrungen“, begann er, „müssen wir davon ausgehen, dass es uns vorerst nicht möglich ist, die Festung im Sturm zu nehmen. Folglich müssen wir uns auf eine längere Belagerung einrichten. Der Herzog hat beschlossen, auf das Eintreffen der Dänen zu warten, die unsere Kräfte voraussichtlich mit mehreren tausend Mann verstärken werden. Ein Teil unseres Heeres sollte den kleineren See im Osten umrunden, um die Festung auch von der anderen Seite einzuschließen. Dann können wir vielleicht hoffen, ihre Besatzung auszuhungern und zur kampflosen Übergabe zu bewegen.“
„Das könnte Wochen oder Monate dauern“, warf Gunzelin von Hagen ein. „Und während dieser Zeit wird auch unsere Verpflegung knapp werden.“
Der Graf nickte. „Das ist in der Tat unser dringlichstes Problem. Doch im Gegensatz zu den Wenden in der Burg können wir uns frei bewegen, und im Umkreis liegen zahlreiche verlassene Dörfer. Es ist Erntezeit, und viele Kornspeicher werden bereits gefüllt sein. Daher hat der Herzog beschlossen, dass wir Suchtrupps aussenden, um Lebensmittel herbeizuschaffen. Wir werden keine Krieger schicken, sondern nur die Entbehrlichen: Trossknechte, Pferdejungen, Diener und Bauern.“
„Sie werden über die Speicher der Wenden herfallen und alles selbst aufessen“, meinte Gunzelin skeptisch.
„Darüber haben wir uns bereits Gedanken gemacht“, versetzte Graf Adolf. „Jeder Gruppe wird ein Ritter samt bewaffnetem Gefolge zugeteilt, der sie anführt und zugleich beaufsichtigt. Das ist vielleicht kein ruhmreicher Dienst für einen Kriegsmann, doch er ist notwendig, um die Versorgung des Heeres sicherzustellen. Jeder der Edlen sollte zu diesem Zeck vorläufig auf einen oder zwei seiner Ritter verzichten.“
„Mit Verlaub, Eure gräfliche Gnaden“, ließ sich plötzlich Hartmann vernehmen, „ich melde mich freiwillig für diesen Dienst.“
„Ich danke Euch, Ritter Hartmann“, sagte Graf Adolf. „Findet Euch morgen bei Sonnenaufgang hier ein, dann teilen wir Euch eine Gruppe zu.“
Ich konnte nicht umhin, mich erneut über meinen Herrn zu wundern. Welchen Reiz sah er darin, einen Haufen von Knechten anzuführen und verlassene Dörfer zu plündern?
„Mein lieber Odo“, erklärte er, als die Beratung beendet war und wir unseren Lagerplatz aufsuchten, „wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen: Es wird eine wochenlange, vielleicht monatelange Belagerung geben. Vermutlich wird kein Kampf mehr stattfinden, bevor die Dänen eintreffen, was bedeutet, dass wir nichts anderes zu tun hätten, als herumzusitzen und zu warten.“
„Was wäre falsch daran?“, fragte ich, denn nach dem Anblick des ersten, so verlustreichen Gefechts hätte ich nichts gegen ein wenig Ruhe einzuwenden gehabt.
„Es wird langweilig sein“, sagte Hartmann leichthin. „Wenn wir aber durch die Gegend ziehen und wendische Dörfer finden, könnten wir einige Beute machen.“
„Aber wir müssen doch alles abliefern“, gab ich zu bedenken.
„Nur die Nahrungsmittel“, sagte Hartmann augenzwinkernd. „Aber wenn wir Münzen finden, Schmuck oder Edelmetalle – warum sollten wir Aufhebens darum machen? Die Armen schert es nicht, weil Gold und Silber nicht ihre Bäuche füllt. Bisher hat es auf diesem Feldzug keine nennenswerte Beute gegeben.
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