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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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umnachtet ist.“
    „Wie meint Ihr das?“
    „Er ist ein junger Hitzkopf“, sagte Hartmann leichthin. „Offenbar hat er kaum Erfahrung mit Belagerungskriegen, sonst wäre er gewiss vorsichtiger. Die rüde Antwort der Wenden scheint ihn ernsthaft erzürnt zu haben. Heinrich ist ein guter Mann, entschlossen und tatkräftig – doch der Stolz ist seine schwache Seite.“
    Die Nacht wurde unruhig, denn von überall her hörten wir das Schlagen der Äxte und Hämmer, mit denen die Zimmerleute ihre Werkstücke bearbeiteten. Beim ersten Sonnenstrahl des nächsten Morgens ließ der Herzog die Trompete blasen und das Heer gegen die Burg vorrücken.
    Glücklicherweise behielt Hartmann recht, denn die Ritter sammelten sich in einiger Entfernung auf einer Anhöhe, während das Fußvolk vorgeschickt wurde. Als der Herzog den Befehl zum Angriff gab, stürmten Hunderte von Kriegsknechten mit lautem Geschrei zum Wassergraben und drängten sich auf die schmale Brücke. Einige führten Leitern mit, die so lang waren, dass sie von vier Männern getragen werden mussten. Andere trugen einen mächtigen Baumstamm, der als Rammbock dienen sollte.
    Die Wenden hatten den Angriff offenbar nicht erwartet, denn es dauerte einige Zeit, bis hinter dem Holzzaun auf dem Wall Bewegung zu erkennen war. Schatten huschten zwischen den Zinnen hin und her, und erst als die Angreifer den Wassergraben überquerten, schienen die Brustwehren voll besetzt zu sein. Schließlich pfiffen Pfeile vom Wall herab, zuerst nur vereinzelt, dann in wahren Schauern. Schreie gellten zu uns herüber, gedämpft durch die Entfernung, und wir sahen, wie zahlreiche Männer von der Brücke ins Wasser stürzten.
    „Die Brücke ist zu schmal“, befand Graf Adolf, in dessen Nähe mein Herr und ich uns aufgestellt hatten. „Kaum vier Mann können nebeneinander gehen, und die Wenden schießen sie bequem herunter.“
    Tatsächlich bahnte sich an der Stelle, wo die Brücke die untere Palisade durchstieß, ein Massaker an. Rasch türmte sich ein ganzer Haufen toter und verwundeter Kriegsknechte, und die Nachdrängenden waren gezwungen, sich ihren Weg über die Körper der Gefallenen hinweg zu bahnen. Diejenigen, die den Wall erreicht hatten, richteten ihre Leitern auf und begannen, einer hinter dem anderen hinaufzuklettern. Der Wall jedoch war nach außen abgeschrägt, so dass die Verteidiger hinter dem Zaun die Kletternden bequem unter Beschuss nehmen konnten. Einer nach dem anderen wurde von den Leitern herabgefegt. Manche blieben in den Sprossen hängen und behinderten die Nachdrängenden, andere verloren den Halt und fielen seitlich hinab, wieder andere stürzten rücklings und rissen diejenigen mit, die hinter ihnen kletterten.
    Inzwischen waren die Männer mit dem Rammbock ans Ziel gelangt und schwangen den mächtigen Baumstamm gegen das Tor. Es erzitterte in seinem Rahmen, doch bestand es aus schwerem Eichenholz und widerstand den Schlägen. Zugleich schwirrten zahllose Pfeile von den umgebenden Türmen herab, und nicht wenige der Männer ließen die Traghölzer los und sanken zu Boden. Andere drängten nach und sprangen an ihre Stelle, doch die Zahl der Gefallenen wuchs, und bald stolperten die Kriegsknechte über die Leiber ihrer Kameraden.
    „Das hat keinen Zweck“, flüsterte Graf Adolf kopfschüttelnd. „Wir brauchen einen überdachten Rammbock auf Rädern; alles andere ist sinnlose Vergeudung von Menschenleben.“
    Offenbar schienen die Männer vor dem Tor zum selben Schluss gekommen zu sein, denn eben gaben die letzten von ihnen auf, ließen die Ramme fallen und ergriffen die Flucht. Kaum besser stand es mit den Leitern: Eine war umgeschlagen, eine andere zerbrochen, und auf der dritten hingen mehrere tote Körper, in die Sprossen verkrallt und mit Pfeilen gespickt. Nur an einer einzigen Stelle war es den Kriegsknechten gelungen, die Wallkrone zu erreichen, doch gelangte kein einziger auf den Wehrgang, denn die Wenden schlugen sie aus der Deckung mit Leichtigkeit zurück. Diejenigen, die noch auf halber Höhe der Leiter waren, sahen ihre Vordermänner einen nach dem anderen abstürzen, besannen sich schließlich eines Besseren und kletterten eilig wieder hinab.
    „Also gut“, sagte Herzog Heinrich, der zwei Reihen vor uns im Sattel saß und das Geschehen regungslos beobachtet hatte. „Blast zum Rückzug!“
    Das Signal erscholl, und die Angreifer – zumindest diejenigen, die noch laufen konnten – drängten über die Brücke zurück ans diesseitige Ufer des

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