Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
Vom Netzwerk:
verschmähte jedoch auch Marder und Dachse nicht. Hartmann und mir ging es vergleichsweise gut, denn wir wurden aus den Vorräten verpflegt, welche die Edlen auf Planwagen mit sich führten. Dafür sorgte Graf Adolf, indem er Diener mit Fleisch und Gemüse schickte.
    Die Versorgungslage besserte sich indes, als wir auf ein wendisches Dorf stießen. Es war verlassen, und weder Mensch noch Tier zeugte davon, dass hier gewöhnlich Bauern lebten. Doch es gab Obstbäume, Gemüsepflanzungen, Vorratsgruben voller Getreide und Felder, auf denen reifes Korn stand. Das ausgehungerte Fußvolk fiel wie ein tausendköpfiges Raubtier über die Siedlung her, als der Herzog sie zur Plünderung freigab. Die Männer stürmten die Hütten, drängten sich in den Gärten, hieben die Obstbäume um, jagten mit gezückten Dolchen nach versprengtem Federvieh, rissen mit bloßen Händen das Gemüse aus den Beeten und gingen einander wegen der nichtigsten Beutestücke an die Kehle. Einige der Häuser fielen in Trümmer, da man selbst die Bretter aus den Wänden riss, um sie als Feuerholz zu benutzen.
    Nach drei weiteren Tagen gelangten wir an einen großen See, dessen jenseitiges Ufer im Dunst verschwamm. Dies musste, wie Graf Adolf erklärte, ebenjener See sein, an dessen nördlichem Ende die Festung Dobin lag. Wir umrundeten das Gewässer im Süden, überquerten mehrere Zuflüsse auf Holzbrücken und zogen am östlichen Ufer hinauf. Das Land blieb unwegsam, denn der See griff mit unzähligen Bächen und Tümpeln in den umliegenden Wald hinaus. Dafür gab es Jagdwild in Fülle. Große Flussbarsche durchzogen die seichten Buchten, und während zahlreiche Männer mit Speeren im Wasser wateten, schossen andere mit Pfeil und Bogen nach Enten und Schwänen. Immer wieder stießen wir auf kleine Dörfer, doch niemals ließ sich ein einziger wendischer Krieger blicken. Wie es schien, hatte sich die gesamte Bevölkerung in die Wälder zurückgezogen oder die Fluchtburg aufgesucht, auf die wir nun jederzeit stoßen mussten.
    An einem regnerischen Morgen Ende Juli, zwölf Tage nach unserem Aufbruch von der Ertheneburg, war es endlich so weit: Wir erreichten eine schmale Landenge, die zwischen dem großen See im Westen und einem kleineren im Osten lag, und fanden unseren Weg von einer mächtigen Befestigung versperrt. Sie war auf drei Seiten von einem starken Wall umgeben und an der vierten Seite durch einen natürlichen Steilhang geschützt. Hoch an diesem Hang lag ein zweiter Befestigungsring, sozusagen eine Burg in der Burg, kleiner, doch höher noch als der Außenwall.
    Wir näherten uns der Burg von Süden, und da ich mit meinem Herrn in einer der vordersten Reihen ritt, konnte ich sogleich erkennen, dass die Anlage sich sehr von jenen Burgen unterschied, die ich aus meiner Heimat kannte. Sie war vollständig aus geschlagenem Holz ohne steinerne Fundamente errichtet. Gleich hinter einem künstlich angelegten Wassergraben verlief ein Palisadenzaun von einer Seeseite zur anderen, und dahinter erhob sich der steile Erdwall, verstärkt durch kreuz und quer geschichtetes Balkenwerk, dessen Zwischenräume mit Lehm gefüllt waren. Auf der Wallkrone verlief ein weiterer Zaun aus senkrecht stehenden Holzbalken, deren kürzere in regelmäßigen Abständen Schießscharten bildeten, während die längeren die Zinnen darstellten. Aus dem Wall sprangen mehrere Türme vor, von hölzernen Brustwehren gekrönt.
    Das Heer geriet bei der Aussicht, endlich gegen den Feind statt gegen den Hunger kämpfen zu können, fast in Raserei und musste davon abgehalten werden, blindlings die Brücke zum Tor zu stürmen. Stattdessen schickte der Herzog eine Gesandtschaft, um den Wendenfürsten zu rufen und ihm eine kampflose Übergabe der Festung anzutragen. Vorneweg gingen die Priester mit dem Banner des Kreuzes, ihnen folgten zu Pferd der Erzbischof von Verden und Graf Adolf. Das übrige Heer hatte sich vor dem Wassergraben aufgestellt, die Ritter kampfbereit im Sattel, dahinter das Fußvolk in solcher Masse, dass es die schmale Landzunge von einer Seeseite bis zur anderen bedeckte.
    Die Holzbrücke war lang und die Entfernung zum Tor groß, so dass wir nicht hören konnten, was gesprochen wurde. Doch sahen wir, wie die Gesandtschaft direkt unter der Brustwehr anhielt, woraufhin sich Graf Adolf im Sattel reckte, den Kopf in den Nacken legte und die Hand erhob. Auf den Wehrgängen entstand Bewegung, schattenhafte Gestalten huschten von Zinne zu Zinne. Dann beugte sich jemand

Weitere Kostenlose Bücher