Die Tränen der Vila
nordöstlicher Richtung um den See verlief. Hartmann und ich ritten vorneweg, gefolgt von Ordulf und seinen Söhnen, die den Pferdekarren führten. Der Rest der Truppe trottete ohne Ordnung hinterdrein, wobei einige der Männer mit misstönenden Stimmen ein Wanderlied krächzten. Mehrfach zweigten Wege von der Straße ab und führten ins Zwielicht der Bäume.
„Wir sollten einen dieser Wege nehmen“, entschied Hartmann, als wir die dritte Abzweigung passierten. „Hier in Ufernähe scheint es keine Siedlungen zu geben.“
Er gebot Halt und lenkte die Truppe auf den Pfad, der zuerst in östlicher, dann in nördlicher Richtung immer tiefer in den Wald führte. Mehrmals überquerten wir Bäche und Gräben auf verfallenen Holzbrücken, und einmal teilte sich der Weg, wobei Hartmann sich aufs Geratewohl für die linke Abzweigung entschied.
Stunden vergingen, ohne dass wir irgendein Ziel oder auch nur einen geeigneten Lagerplatz erreicht hatten. Die Männer begannen zu murren, und am Mittag hatte Hartmann ein Einsehen und ließ sie auf einer Lichtung am Wegrand rasten. Der Karren wurde abgestellt, die Pferde grasten, und Hartmann wies den Bauern namens Ordulf an, die Verpflegung zu verteilen.
Viel war es nicht, was man uns mitgegeben hatte. Es gab einen Bottich mit Getreidebrei und Ziegenkeulen, an denen mehr Knochen als Fleisch zu finden war. Wie nicht anders zu erwarten, brachen rasch Streitereien um die Verteilung aus. Hartmann überließ die Schlichtung Ordulf, was eine günstige Entscheidung war, denn der bärenstarke Mann mit dem schwarzen Bart erwies sich als respektable Autorität, duldete keinen Widerspruch und teilte auch den einen oder anderen Faustschlag aus. Am Ende setzte er seine Vorstellungen durch, was freilich bedeutete, dass er und seine beiden Söhne in den Besitz der besten Ziegenschenkel gelangten.
Hartmann hatte sich in weiser Voraussicht an einen entlegenen Platz zurückgezogen, so dass das Geschrei, angenehm gemildert, aus einiger Entfernung herüberdrang. Zum Glück hatten wir unsere eigene Verpflegung, gutes Jagdwild aus den persönlichen Vorräten des Grafen.
„Dieser Ordulf scheint ein tüchtiger Mann zu sein“, stellte mein Herr zwischen zwei Bissen fest. „Wir sollten ihn uns warmhalten.“
„Aber er hat sich und seinen Söhnen viel mehr Nahrung zugeteilt als den anderen“, sagte ich.
„Natürlich hat er das, und ich werde auch nicht dagegen einschreiten“, beschied Hartmann. „Das ist der Preis, den wir für seine Treue zahlen müssen. Die Leute haben Respekt vor ihm, und wenn wir sie beherrschen wollen, brauchen wir diesen Mann auf unserer Seite. Es schadet also nicht, ihn ein wenig zu bevorzugen.“
„Und wenn sie aufbegehren?“, fragte ich, während ich unbehaglich auf das Durcheinander der groben Stimmen lauschte.
„Keine Sorge“, winkte Hartmann ab. „Wenn wir erst einmal etwas zu plündern gefunden haben, können sie ihre Unzufriedenheit an den Hütten und Tieren der Wenden auslassen. So ist das eben, wenn man einfaches Volk zu führen hat: Behandle sie hart, damit sie nicht meutern, und lenke zugleich ihren Zorn auf den Kriegsfeind; dann kannst du ihres Gehorsams sicher sein.“ Er vertilgte den Rest seiner Mahlzeit, ließ sich auf den Waldboden zurücksinken und schloss die Augen. „Ich werde ein Stündchen schlafen. Weck mich zeitig, denn ich will heute noch das nächste Dorf erreichen.“
Ich gehorchte und bewachte seinen Schlaf, während die Sonne ihren Höhepunkt überstieg und die Männer auf der Lichtung allmählich ruhiger wurden. Zuerst war ich erleichtert über die Stille, dann jedoch überfiel mich ein leises Unbehagen. Meine Vorahnung bestätigte sich, denn nach einiger Zeit vernahm ich das leise Knistern von Zweigen in unmittelbarer Nähe.
„Klein-Odo!“
Mit Schrecken erkannte ich die Stimme und brauchte mich nicht erst umzuwenden, um einen Blick auf das hagere Gesicht mit den stechenden Augen und dem schütteren Kinnbart zu werfen. Herbort – denn er war es in der Tat – schlug seine Kapuze zurück und ließ sich an meiner Seite nieder. Ich war derart entsetzt, dass ich am liebsten aufgesprungen wäre, um Hartmann zu wecken, doch die Furcht bannte mich an meinen Platz.
„Wie ich sehe, bewachst du den Schlaf deines Ritters – ein treuer Knappe fürwahr“, flüsterte Herbort, und seine Stimme, obwohl gedämpft, schnitt mir durch Mark und Bein. „Und noch dazu plötzlich ein Edler! Odo von Altendorf, ja? Das hast du mir
Weitere Kostenlose Bücher