Die Tränen der Vila
denn offenbar war es das einzige, in dessen Stallungen sich lebende Tiere befanden. Dementsprechend gründlich wurde jeder Winkel durchstöbert, und als sich kein lebendes Wesen mehr fand, rissen die Plünderer das Gemüse aus der Erde und hieben mit Äxten die Obstbäume um. Auch Herbort und Ordulf fanden sich ein, dessen Söhne ein Schwein erbeutet, mit einem Holzprügel bewusstlos geschlagen und an allen vier Läufen gefesselt hatten. Herbort hatte seine nahezu übermenschliche Schnelligkeit erneut unter Beweis gestellt und mehrere Hühner eingefangen, deren gebrochene Hälse er zusammengebunden und an seinen Gürtel gehängt hatte. Mehrere andere Männer schleppten ein Holzfässchen herbei, dessen süßlicher Geruch für große Aufregung sorgte, denn offensichtlich war es mit Honigmet gefüllt. Sogleich entstand Streit darüber, wie die Kostbarkeit aufzuteilen sei, und innerhalb kürzester Zeit entbrannte eine handfeste Schlägerei.
Während die Männer mit Fäusten und Knüppeln aufeinander einschlugen und manch einer mit ausgeschlagenen Zähnen zu Boden sank, zog ich mich ins Gebüsch nahe des Gartenzauns zurück. Niemand beachtete mich – außer Herbort, der sich gleichfalls abseits hielt und mich erspäht hatte. Langsam, fast gemächlich kam er zu mir herüber, jenes dünnlippige Lächeln auf dem Gesicht, das ich fürchten gelernt hatte.
„Hast du Beute?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Gib mir, was immer du hast!“, zischte er – und als ich mich nicht rührte, streckte er die Hand aus und tastete meinen Sarrock ab.
„Lass mich los!“, rief ich und wich vor ihm zurück.
Plötzlich hörte ich ein dumpfes, krächzendes Husten in unmittelbarer Nähe. Auch Herbort musste es gehört haben, denn er erstarrte, und sein Blick schoss suchend umher. Das Geräusch wiederholte sich, und nun erst begriff ich, dass es von unten kam, buchstäblich aus der Tiefe der Erde. Herborts Blick senkte sich auf den Boden zu seinen Füßen, und er stampfte prüfend auf. Es klang dumpf, doch unverkennbar hohl, als befände sich direkt unter uns eine Höhle. Im Nu schien er seine ursprüngliche Absicht vergessen zu haben, ging in die Knie und tastete den Boden ab, während ich an den Gartenzaun zurückwich.
„Da ist ein Versteck!“, schrie irgendjemand, und sogleich vergaßen die streitenden Männer das Metfass und eilten herbei. Ordulf ließ sich an Herborts Seite nieder und ertastete den Rand einer hölzernen Abdeckung, die so geschickt getarnt war, dass sie mit dem umliegenden Boden verschmolz. In Erwartung weiterer Beute scharten sich die Männer um das Versteck, wobei sie vor Erregung schrien und sich gegenseitig aus dem Weg drängten. Viele starke Hände ergriffen die rechteckige Holzplatte und wuchteten sie hoch, so dass eine geräumige Grube zum Vorschein kam, nahezu vier Ellen tief und mit lehmverkleideten Wänden. Als jedoch das Sonnenlicht hineinfiel, beleuchtete es weder Nahrungsvorräte noch Schätze, weder Säcke noch Fässer – sondern einen Haufen zusammengedrängter menschlicher Leiber. Offenbar hatte sich eine ganze Familie in dieser Grube verborgen.
Beklommen beobachtete ich, wie Ordulf und mehrere andere Männer auf die Wenden hinabbrüllten und mit Dolchen und Speeren nach ihnen stachen, um sie zum Heraufklettern zu bewegen. Als das nicht fruchtete, knieten sie nieder und packten zu. Ordulf zog einen kleinen Jungen herauf, der wie ein verwundetes Tier schrie und sich verzweifelt wehrte. Seine Söhne bekamen das offene Haar einer Frau zu fassen und zerrten sie bis zur Brust über den Rand der Grube – ein Anblick, der bei ihren Mitstreitern wahres Triumphgeheul auslöste.
Ich selbst kämpfte mit einem jähen Aufruhr meiner Gefühle. Die Wenden sahen nicht anders aus als die Dorfbewohner in meiner Heimat, und ganz gewiss waren sie Bauern und keine Krieger. Keiner von ihnen trug eine Waffe. Es waren sechs an der Zahl, die schließlich allesamt aus der Grube gezogen und zu Boden geschleudert wurden: eine Frau von vielleicht dreißig Jahren, die sich auf den kleinen Jungen geworfen hatte und ihn mit beiden Armen schützend umschlang, ein weiterer Junge von etwa zwölf Jahren, dann ein sehr alter Mann, der sich kaum auf den Beinen halten konnte, schließlich ein jugendliches Mädchen und zuletzt ein Mann, der vermutlich der Bauer und Hausherr war. Diesem erging es besonders schlecht, denn er hatte Frau und Kinder zu decken versucht und sich dabei mehrere Speerstöße eingefangen, so dass Ordulf
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