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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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jedenfalls hielt Ordulf erschrocken inne, starrte ihn an und deutete zu der offenen Grube hinüber. Gleichzeitig machte er Anstalten, sich zu erheben und seine Blöße zu bedecken. Hartmann aber lächelte – tatsächlich: Er lächelte! – und machte eine gönnerhafte Handbewegung, als wolle er dem Bauern bedeuten, er möge sich nicht stören lassen.
    Fassungslos beobachtete ich, wie mein Herr sich stattdessen den Männern zuwandte, die mit dem halbwüchsigen Mädchen kämpften. Inzwischen war es zweien von ihnen gelungen, sie rücklings unter den Achseln zu packen und vom Boden zu heben. Herbort nestelte bereits an seinem Gürtel, doch Hartmann schob ihn beiseite. Die Umstehenden bemerkten seine Anwesenheit und traten respektvoll zurück – einem Edlen wagten sie selbst in der höchsten Erregung nicht die Beute streitig zu machen.
    „Der Ritter!“, schrie jemand. „Macht Platz für den Ritter!“
    In aller Seelenruhe legte Hartmann seinen Schwertgürtel ab, raffte das Kettenhemd bis zur Taille empor und zog seine Bruche herunter.
    Mit geweiteten Augen starrte ich auf die Szene, und plötzlich schob sich ein anderes Bild davor, ein Bild aus meiner Kindheit. Ich sah wieder mein Heimatdorf, sah die feindlichen Fußknechte heranstürmen, sah jenen Ritter, der unsere arme Nachbarin schändete, sah meinen Vater, der ihn mit einer Sense am Gesäß verwundete –
    – und auf einmal deckten die Bilder einander: das Bild, das meine leibhaftigen Augen sahen, und jenes aus meiner Erinnerung. Denn als Ritter Hartmann von Aslingen seine Hose herabzog, wandte er mir den Rücken zu, und auf seinem nackten Gesäß sah ich, quer über dessen linke Hälfte verlaufend, eine lange, weiß schimmernde Narbe.
    Gott, der Gerechte!
    Mir wurde schwarz vor Augen. Konnte es wahr sein? Alle Wahrnehmung wich gleichsam von mir zurück; die Bilder verschwammen, das Geschrei entfernte sich, und mein Körper wurde kalt und gefühllos.
    War dies der Mann, der meinen Vater getötet hatte? War ich sein Schildträger, sein Diener, sein Gefolgsmann und Knecht? Hatte ich Woche für Woche an seiner Seite verbracht, mit ihm gegessen und getrunken, seinen Reden gelauscht und seinen Schlaf bewacht? Hatte ich ihn, obwohl ich um seine Schwächen und Laster wusste, wie einen väterlichen Freund schätzen und lieben gelernt?
    Oder narrte mich am Ende der Teufel?
    Ein Schrei brachte mich schlagartig in die Gegenwart zurück: Hartmann hatte sich dem Mädchen genähert, sie jedoch verdrehte mit erstaunlicher Wendigkeit den Körper, beugte das Knie und stieß ihm den nackten Fuß mitten ins Gemächt. Hartmann brüllte vor Schmerz, fiel auf die Knie und krallte beide Hände in die Lenden. Der Tritt hatte jedoch noch etwas anderes bewirkt, denn sein Rückstoß brachte die beiden Männer, in deren Armen das Mädchen sich wand, aus dem Gleichgewicht. Einer von ihnen stolperte, wobei er den anderen mitriss, so dass beide samt ihrer Gefangenen rücklings am Boden landeten.
    Das Mädchen stand als Erste wieder auf den Füßen. Mit der Geschwindigkeit einer Katze entwand sie sich den Männern und ergriff die Flucht. Herbort versuchte ihr den Weg zu verstellen, sie jedoch entwischte ihm mit einem blitzschnellen Haken. Nun rannte sie von den Männern fort und zum Zaun – genau auf mich zu, der ich wie angewurzelt dort stand.
    „Halte sie auf!“, brüllte irgendjemand, doch ich sah mich nicht in der Lage, auch nur einen Finger zu rühren. Stattdessen verharrte ich, sah das Mädchen auf mich zukommen, bemerkte, wie sie erschrak und für die Dauer eines Herzschlags innehielt. Mein Blick traf den ihren.
    Gott hat es so eingerichtet, dass sich uns manchmal ein flüchtiger Augenblick zu einer Ewigkeit dehnt und wir mehr wahrnehmen, schärfer beobachten und tiefer erkennen als sonst in stundenlanger Betrachtung. Solch ein Augenblick war es, als wir beide innehielten: das Mädchen vor Schreck, da sie ihren Fluchtweg abgeschnitten glaubte; ich dagegen aus reiner Unfähigkeit, mich zu irgendeiner Handlung zu entschließen. Ich erkannte, dass sie älter war, als es zunächst den Anschein gehabt hatte, achtzehn Jahre vielleicht, doch von sehr kleiner und schmaler Statur. Pechschwarzes Haar fiel ihr in wirren Locken auf die schmalen Schultern. Ihr Gesicht war verfärbt von Staub und Tränen, ihre Augen jedoch blitzten wachsam und mit einem Ausdruck verzweifelter Kühnheit. Offenbar ermaß sie, ob von mir Gefahr drohte – und als ich noch immer keinen Finger rührte, wandte sie

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