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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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schließlich selbst in die Grube hinabspringen musste, um den Schwerverletzten auf die Füße zu zerren. Sobald er nach oben geschleift worden war, ließ einer der Umstehenden eine Axt auf seinen Schädel niederfahren.
    Was dann geschah, scheue ich mich zu beschreiben – doch ich muss, denn andernfalls wäre der weitere Fortgang der Ereignisse unverständlich. Gott lässt manches Unrecht geschehen auf Erden, angeblich zur Erfüllung seiner unerforschlichen Pläne – doch in jenem Moment, so glaube ich, zog er seine Hand von meinen Gefährten ab und erlaubte dem Teufel, ihre Herzen zu verhärten und ihre Hände zu führen.
    Ohne den Tod des Bauern weiter zu beachten, hatten sie die fünf übrigen Gefangenen umringt und mühten sich nun, die Mutter und den kleinen Sohn auseinanderzubringen. Zu diesem Zweck hieben und traten sie blindlings drauflos, bis der Kopf der Frau zur Seite flog und ihre Augen sich zu einer rettenden Ohnmacht schlossen. Der Knabe wurde ihr aus den erschlafften Armen gerissen, und einer von Ordulfs Söhnen packte ihn von hinten unter den Achseln und hob ihn hoch, so dass seine Füße in der Luft strampelten. Die Augen des Jungen waren zusammengekniffen, und aus seinem aufgerissenen Mund tönte Schrei um Schrei, während Tränen den Staub auf seinen Wangen furchten.
    „Nimmst du die heilige Taufe an?“, schrie Ordulf ihm ins Gesicht – was mir angesichts der Verfassung des Jungen ebenso wie aufgrund der fremden Sprache grausam unsinnig erschien. Zudem war kein Priester zugegen, der das Sakrament hätte spenden können. Dennoch schien bei Ordulfs Worten ein heiliger Zorn von den Umstehenden Besitz zu ergreifen, denn nun packten sie auch die übrigen Gefangenen und brüllten dieselbe Frage in ihre vor Todesfurcht verzerrten Gesichter.
    Als der Knabe fortfuhr zu schreien, statt zu antworten, nickte Ordulf Herbort zu, der mit gezücktem Dolch herantrat und mir gnädigerweise den Blick auf das Geschehen verstellte. Das Geschrei des Jungen brach plötzlich ab und ging in ein schauerliches Würgen über, während die Männer im Umkreis begeistert johlten.
    Dies war ein Signal für die Übrigen. Jede Ordnung löste sich auf, und dieselben Männer, die noch Stunden zuvor Hartmanns Kommando gehorcht hatten, verwandelten sich in reißende Bestien. Mehrere stürzten sich auf den älteren Jungen, der plötzlich aufgesprungen war, um die Flucht zu ergreifen. Er kam nur wenige Schritte weit, bis sie ihn zu Fall brachten. Irgendjemand hatte einen Strick zur Hand, und sofort schien die Idee, den Unglücklichen zu erhängen, von dem ganzen Haufen Besitz zu ergreifen. Zwei hielten ihn fest und schleiften ihn quer durch den Garten auf die alte Eiche am Dorfplatz zu, während ein Dritter vorauslief, um die Schlinge zu knüpfen und über einen Ast zu werfen. Der ältere Mann, wahrscheinlich der Großvater der Familie, wurde in dieselbe Richtung geschleppt, wobei er keinen Widerstand leistete, sondern reglos in den Armen seiner Häscher hing.
    Derweil hatten Herbort, Ordulf und seine Söhne sich der beiden Frauen angenommen. Die Mutter lag noch immer ohnmächtig am Boden, was Ordulf jedoch nicht hinderte, augenblicklich seine Bruche herabzuzerren und sich zwischen ihre Schenkel zu drängen. Bei diesem Anblick gingen den anderen die Augen über. Einige Männer sprangen hinzu und versuchten, Ordulf von seinem Platz zu verdrängen; dieser jedoch brüllte wütend und schleuderte sie mit Faustschlägen zurück. So begannen die Enttäuschten, sich über das junge Mädchen herzumachen, das sich mit großer Kraft und Beharrlichkeit gegen ihren Zugriff wehrte. Ihr Widerstand war stumm, was mich eigentümlich berührte. Weder bei der Tötung ihres Vaters noch ihres Bruders hatte sie den geringsten Laut von sich gegeben; stattdessen trat, biss und schlug sie um sich wie eine bedrängte Katze. Ihr rabenschwarzes Haar flog, während ihre Häscher schrien und fluchten.
    Ich stand gebannt vor Schrecken am Zaun und wünschte verzweifelt, Hartmann würde auftauchen und dem Schauspiel ein Ende machen – und da war er! Als hätte er mein stummes Flehen gehört, bog er um den hinteren Hausgiebel und blickte erstaunt auf die Toten am Boden. Da ich in der gegenüberliegenden Ecke des Gartens stand, bemerkte er mich nicht. Stattdessen stieg er über den Leichnam des kleinen Jungen hinweg und ging auf Ordulf zu, der noch immer zwischen den Schenkeln der Frau kniete. Bei all dem Lärm und Geschrei konnte ich nicht verstehen, was er sagte;

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