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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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sich ab, sprang mit der Behendigkeit eines jungen Rehs über den Zaun und rannte über die Felder auf den Wald zu.
    Ich blieb stocksteif stehen, was zur Folge hatte, dass ihre Verfolger geradewegs in mich hineinrannten und mich zu Fall brachten. Stöhnend rappelte ich mich auf, gerade rechtzeitig, um eine geballte Faust vor meinen Augen schweben zu sehen.
    „Was hat das zu bedeuten?“, brüllte eine zornige Stimme mir ins Gesicht. „Verdammter Heidenfreund!“
    „Nicht!“, rief ein anderer und hielt ihn vom Zuschlagen ab. „Das ist der Edelknappe des Ritters!“
    „Lasst ihn in Ruhe!“, ließ sich eine dritte Stimme vernehmen. Die Männer machten erschrocken Platz, und Hartmann kam heran, wobei er im Gehen seine Kleider ordnete und sich offenbar mühsam den Schmerz verbiss. „Kümmert euch lieber um die Beute – und erlöst die Frau!“
    Murrend zogen die Männer sich zurück, und aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Herbort neben der Frau niederkniete, die eben aus ihrer Ohnmacht erwachte und sich schwach unter dem schnaufenden Ordulf zu regen begann. Ihre Augenlider flatterten, ihre Lippen begannen zu zittern, und ihr Kopf fiel von einer Seite zur anderen. Innerlich bebte ich in Erwartung des Moments, da sie wahrnehmen würde, was mit ihr geschah, und fürchtete mich vor dem unvermeidlichen gellenden Schrei. Dem kam jedoch Herbort zuvor, indem er sein liebstes Handwerk ausübte und ihr mit einem raschen Schnitt die Kehle durchtrennte.
    „Was war denn los mit dir?“, riss mich Hartmann aus der Betrachtung des grausigen Geschehens. „Warum hast du das Mädchen laufenlassen?“
    Er wirkte keineswegs erbost, sondern sprach mit derselben ruhigen und freundlichen Stimme wie stets. Ich verharrte mit versteinertem Gesicht – hätte er in mein Inneres blicken können, er wäre entsetzt zurückgewichen.
    „Ach, mein armer Odo“, sagte Hartmann fast väterlich und legte mir einen Arm um die Schultern. Bei der Berührung standen mir sämtliche Haare zu Berge, und ich verkrampfte mich derart, dass mein Nacken schmerzte.
    „Du hast ein zartes Gemüt, nicht wahr? Hast du etwa die ganze Zeit hier gestanden und zugesehen?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich verstehe dich nicht, mein junger Freund. Du stehst im besten Alter, bist ein gut gewachsener Mann und hast Mut und Kraft. Heute hättest du Gelegenheit gehabt, ein wenig Spaß zu haben! Im Krieg sind Dinge erlaubt, für die man im Frieden entweder den Segen der Kirche braucht oder teuer bezahlen muss.“
    Er lachte auf seine unbekümmerte Art, die mich früher so oft anziehend berührt hatte. Jetzt ließ sie mich schaudern.

Von der Nacht des Feuers
    Unterdessen war es Abend geworden, und die Männer hatten sich beruhigt, so dass Hartmann sie zusammenrufen und an ihren Auftrag erinnern konnte. Sämtliche Beute wurde in eine der Vorratsgruben geschafft, die zum größten Haus des Dorfes gehörte. Die Grube wurde mit Brettern bedeckt, und Hartmann verpflichtete Ordulf und dessen Söhne zu umsichtiger Bewachung. Zweifellos würden sie sich an den Vorräten bedienen, doch dies nahm er in Kauf, damit nicht alle dreißig Mann darüber herfielen.
    Jeder der Plünderer hatte sich einer Durchsuchung zu unterziehen, um sicherzustellen, dass keiner von ihnen Nahrungsmittel oder Wertsachen verbarg. Dabei kam jedoch nichts zutage außer ein paar kupfernen Armreifen, Bernsteinen und einigen Küchenmessern. Hartmann seufzte, winkte ab und bedeutete den Männern großzügig, diese Gegenstände von geringem Wert zu behalten. Edelmetalle oder Münzen fand er nicht.
    Da es inzwischen dunkelte, hatte Hartmann entschieden, die Nacht im Dorf zu verbringen. Ein feindlicher Überfall schien nicht zu befürchten, da die Siedlung offenkundig schon seit längerer Zeit verlassen war. Daher gestattete er den Männern, das große Haus in der Dorfmitte zu beziehen, den Kamin zu befeuern und einen Teil des erbeuteten Fleisches zu braten. Außerdem stiftete er der Truppe das Fass mit Honigmet – eine großzügige Tat, die Jubel und allgemeine Hochrufe zur Folge hatte.
    Das Haus, in dessen Garten die Bluttaten stattgefunden hatten, wurde hingegen gemieden. Hartmann hatte Anweisung gegeben, die Toten fortzuschaffen, da er fürchtete, der Aasgeruch könne Wölfe anlocken. Zudem ertappte er einen der Männer dabei, wie er sich an der bereits erkalteten Leiche der Frau verging, und dieser Anblick schien selbst ihm Unbehagen zu verursachen. Also wurden die Toten in die Grube geworfen, die ihnen

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