Die Tränen des Herren (German Edition)
paillettenbesetzten Wams packte die halb entkleidete Frau, schüttelte sie. Sie versuchte sich zu befreien, während ein zweiter, dunkel gekleideter Bewaffneter von hinten ihren Peiniger angriff.
Doch ein Faustschlag traf sie am Kopf und sie stürzte rücklings die Holztreppe hinab, blieb verkrümmt zwischen den Stoffballen im Lagerbereich liegen. Einer der Ballen kippte, riss den großen Kerzenständer mit sich. Im Handumdrehen züngelten überall Flammen, neue Nahrung findend, als das Geländer der Galerie unter einem Schwerthieb zusammenbrach. Der Schlag hatte dem Mann im roten, paillettenbesetzten Wams gegolten, aber er hatte ihn verfehlt. Sein Gegner war behände, aber außer sich vor Wut.
„MÖRDER! Du hast sie umgebracht!!!“
Die Schwerter klirrten aufeinander. „Was hast du gedacht, he, du Ratte? Dass du es fröhlich mit meiner Frau treiben kannst, während ich unterwegs bin?!“ Wieder ein Hieb. Diesmal traf es den Schwarzgekleideten am Arm. Er stolperte, landete hart an der Rückwand der Galerie, raffte sich aber wieder auf und ging zum Gegenangriff über.
Das Feuer begann gierig um sich zu greifen, ein beißender Qualm hüllte die beiden Kontrahenten ein und ließ ihre Augen tränen. Durch das Prasseln der Flammen und das Klirren der Schwerter war jetzt noch ein weiteres Geräusch zu hören: das Rufen eines Kindes. Höchstens zwei Jahre alt. Es war aus dem Schlafgemach getappt, brüllte verängstigt nach seiner Mutter.
„Wessen Balg ist das? DEIN Bastard, was?!“ Die Treppe gab unter dem Fraß der Flammen nach und riss einen Teil der Galerie mit sich. Die beiden Kämpfer wichen zurück in eines der Zimmer, über das Kind setzend, das aus Leibeskräften schrie. „Ich schicke dich in die Hölle! Und deine Brut gleich mit!“ keuchte der Rotgewandete und holte zu einem weiten Schlag aus. In diesem Augenblick warf sich sein Gegner in einem verzweifelten Angriff nach vorn und rammte ihm die Klinge in die Brust. Einmal, und noch einmal. Blut spuckend ging jener in die Knie.
Ohne ihn weiter zu beachten stürmte der Schwarzgekleidete durch die schon im Türrahmen züngelnden Flammen hinaus auf die Überreste der Galerie und griff das schreiende Kind. Nur ein paar Sekunden, bevor das Feuer vollständig das obere Stockwerk erfasste, sprang er durch eines der Fenster…
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Frankreich, Herbst 1307
Jener 12. Oktober begann für die Templerniederlassung von Provins wie jeder gewöhnliche Tag. Noch lag Dunkelheit über dem Land, als Komtur Renalt einen seiner Ordensbrüder zu sich befahl.
„Hier sind die Wechsel für unsere Bank in Paris. Übergebt sie dem Visitator persönlich, Bruder Jocelin.“ Er schob eine Schatulle über den Tisch. „Reitet nach der Messe los. Dann seit Ihr zur Non in Paris.“
„Ja, Sire Commandeur.“ Der Schein der Kerze glitt über ein noch junges Gesicht mit kurz geschnittenem, dunklem Haar und hellen Augen.
„Ihr werdet ohne Begleitung reisen. Eine Eskorte macht das Gesindel nur neugierig“, fuhr der Komtur fort.
Jocelin nickte. Seit der letzten Steuererhöhung des Allerchristlichsten Königs, wie Philipp IV. sich nannte, hatten die Überfälle beträchtlich zugenommen.
Der junge Ordensbruder ergriff die Schatulle und schlug den Mantel um sie. Mit einer Verneigung verließ er die Kammer. Der nachdenkliche Blick des Komturs folgte ihm. Jocelin war jetzt seit fast fünf Jahren hier; er war einer der besten Kämpfer, zudem noch weise und gerecht in den Entscheidungen der Kapitelssitzungen, trotz seiner Jugend. Renalt zweifelte nicht, dass dem jungen Mann eine große Zukunft bevorstand. Wahrscheinlich würde er bald eine eigene Niederlassung zur Verwaltung übertragen bekommen, oder gar nach Zypern berufen werden, in den Konvent des Meisters… Eine nicht unerhebliche Karriere für einen Waisenjungen aus Palästina….
Eine knappe Stunde später ritt Jocelin durch das Tor der Komturei von Provins. In den Straßen der Stadt war es noch ruhig. Die Sonne ging soeben auf und kämpfte sich durch tief hängende regenschwangere Wolkenberge. In der Nacht hatte ein Sturm fast sämtliche Blätter von den Bäumen gerissen. Kahl streckte sich das Geäst in den Himmel. Der eisige Wind ließ es ächzen und knirschen. Jocelin war froh, dass man ihm ein zusätzliches Untergewand gestattet hatte. Hinter den Stadtmauern schlug er den Weg über das Landgut des Ordens ein. Dort waren die Bauern bereits an der Arbeit. Es galt die Sturmschäden auszubessern, ehe es erneut zu
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