Die Tränen des Herren (German Edition)
der Siegelbewahrer des Königs! Der hat schon seit vier Jahren keine Kirche mehr von innen gesehen!“
„Ich muss wissen, was geschehen ist. Ich muss weiter, “ unterbrach Jocelin den Redefluss des Alten.
„Aber nicht in Eurem Ordensgewand.“
Er bückte sich und holte ein Bündel hervor. Als er den Stoff auseinander schlug, kam ein abgewetzter Pilgermantel zum Vorschein.
„Nehmt das! Ich hab‘s getragen damals, auf dem Weg nach Santiago.“
„Ich kann mein Habit nicht ausziehen! Es wäre Verrat!“
„Haltet es, wofür Ihr wollt, aber wenn Ihr‘s anbehaltet, ist es der sicherste Weg in den Kerker!“
Jocelin nickte. Der Alte hatte recht. Wollte er Klarheit gewinnen, durfte er nicht seine Freiheit verlieren.
Langsam löste er die Kordel seines weißen Mantels, nahm ihn von den Schultern und küsste das aufgenähte Kreuz, ehe er ihn in den Sack zur Rüstung stopfte. Dann warf er den Pilgerumhang über seine Tunika und ergriff den Pilgerstab, den der Alte ihm entgegenhielt. „Aber mein Pferd...“
„Ah, reiten könnt Ihr nicht, Sire! Das ist ein viel zu gutes Tier für einen zerlumpten Pilger! Nehmt die Satteldecke ab und alles, was es als Eigentum Eures Ordens kennzeichnet und lasst‘s mir da! Ich werd‘ einen Platz finden, wo‘s es gut hat...“
„Das ist also der Preis für deine Hilfe!“ Jocelin ließ traurig die Hand über den Hals des Tieres gleiten, das ihm seit zwei Jahren vertraut war.
„Nicht Preis, Sire! Ich helf‘ Euch, und das Pferd hilft mir, dass ich wieder ein paar Tage leben kann!“
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Der prächtige Zug des Königs bewegte sich die breite Rue du Temple hinab. Eine Volksmenge umringte die Herolde und die Leibgarde. Seine Majestät schien heute großzügiger Laune zu sein. Die Münzen flogen reichhaltig in ausgestreckte Hände. Einige Leute glaubten sogar, auf dem statuenhaften Antlitz des Königs ein Lächeln zu sehen. Philipp genoss den Ritt in der Tat. Die strahlende Sonne, die auf den Rüstungen der Söldner glänzte, die Aufregung der abergläubischen alten Weiber, die sich drängten, um seinen Mantel zu berühren. Er war der Enkel eines Heiligen... An einer Straßenecke boten sich schamlos ein paar Mädchen dar. Philipp hätte eine Schar von Mätressen haben können. Doch seit dem Tod seiner Frau lebte er keusch wie ein Eremit. Seine Geliebte hieß Frankreich, und für sie war er bereit, alles zu opfern. Heute Morgen hatte er ihr den Orden der Templer geopfert. Der König gestattete sich einen Seitenblick auf seinen neben ihm reitenden Siegelbewahrer. Guillaume de Nogaret trug mit seinem schmucklosen schwarzen Gewand eine Einfachheit zur Schau, die an Geiz grenzte. Sein üblicherweise in mürrische Falten gelegtes Gesicht strahlte an diesem Tag vor innerer Befriedigung. Er war dabei gewesen, als am Morgen die königlichen Söldner die Templer der Pariser Komturei gefangen nahmen. Er hatte ihre Gesichter gesehen, ihre Verwirrung, ihre Angst. Philipp spürte, wie viel Nogaret dieser Triumph bedeutete, vielleicht mehr als ihm selbst. Was nur brachte ihn zu einem solchen Eifer, der den Gehorsam eines loyalen Dieners bei weitem überstieg? Er, Philipp, hatte genügend Gründe, gegen den Orden vorzugehen. Die Templer bildeten einen mächtigen, reichen, und seiner Ansicht nach vor allem überflüssigen Staat inmitten seines Reiches. Aber Guillaume de Nogaret? Hell spiegelte sich die Sonne in dem großen goldenen Kreuz, dass Nogaret auf der Brust trug. Er legte Wert darauf, sich als treuer Sohn der Kirche darzustellen. Und das, obwohl er seit beinahe vier Jahren mit dem Bann belegt war…
Damals hatte Philipp IV. Papst Bonifatius VIII. in die Schranken weisen wollen. Unterstützt von einer feindlichen Kardinalspartei und zahlreichen gekauften Zeugen war der Verleumdungskampf geführt worden. Man hatte Bonifatius der Häresie und Götzenverehrung angeklagt, des Ämterkaufs und anderer übler Verbrechen. Dann, im Frühjahr, hatte Guillaume de Nogaret mit einer Handvoll Söldner den Papst in seinem Palast in Anagni überfallen und drei Tage gefangen gehalten. Bonifatius, dieser zähe alte Knochen, lebte zu Nogarets Missfallen nach seiner Befreiung noch lang genug, seinen Peiniger zu exkommunizieren. Sein Nachfolger Benedikt IX. bekräftigte den Bann, und auch Papst Clemens verweigerte die Absolution.
Die königliche Prozession hatte die Klosterfestung der Templer erreicht. Die gewaltige Zugbrücke senkte sich über den Graben. Zu beiden Seiten nahmen die Herolde
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