Die Tränen des Herren (German Edition)
regnen begann. Zäune waren zusammengefallen, Vieh entlaufen, Dächer halb weggefegt. Als Jocelin vorüber ritt, unterbrachen die Bauern kurz ihre Beschäftigung für einen Gruß. Trotz aller Beschwernis hatten die Untertanen des Ordens keinen Grund zur Klage. Ihre Abgaben waren fest geregelt, die Handwerker erhielten stets ihren Lohn, und keine Fehden bedrohten Land und Leute. Jocelin grüßte mit einem kurzen Winken zurück. Bald erreichte er die weit ausschwingende Ebene vor Paris. Die Stadt selbst lag noch hinter einem dichten Regenschleier verborgen. Ein paar ärmliche Dörfer säumten die Straße, auf der ungewöhnlich viele königliche Söldner unterwegs waren.
Es regnete wieder, zuerst nur ganz leicht, schließlich aber prasselten die Tropfen mit Hagel vermischt nieder. Gemeinsam mit fünf Söldnern suchte Jocelin unter den Bäumen am Wegesrand Schutz. „Verdammtes Wetter!“ fluchte einer der Bewaffneten. Sein mit der königlichen Lilie verziertes Wams war schlammbespritzt. Jocelin bemerkte, dass es die Galauniform war und fragte nach dem Grund für die Aufmachung. Der Söldner zuckte mit den Schultern.
„Wir haben den Befehl von unserem Kommandeur erhalten, der bekam ihn von seinem Bailli, und der wohl von unserem hochheiligen Herrn König selber.“
Einer seiner Kameraden hörte den feinen Hohn in diesem Worten und setzte hinzu: “Na, unser Herr König soll über seiner Heiligkeit nur nicht vergessen, uns den Sold zu zahlen!“
„Genau!“ pflichtete ein anderer bei. „Aber man hört so Sachen, dass Seine Majestät bald Truhen voller Gold haben soll.“
„Ach, woher denn? Da muss schon ein Wunder passieren! - Aber was soll’s!“ Er zog einen Lederbecher aus der Tasche und klapperte herausfordernd mit den Würfeln.
„Machen wir ein Spielchen?“
Jocelin lehnte das Angebot, sich zu beteiligen, mit einem Kopfschütteln ab. Würfelspiel war ein verdammungswürdiger Zeitvertreib und ihm natürlich untersagt.
Stunden später ließ der Regen etwas nach und Jocelin ritt weiter. Völlig durchnässt kam er am Flussübergang an. Gewöhnlich floss die Seine an dieser Stelle ruhig dahin. Die Regenfälle der vergangenen Stunden hatten sie jedoch in eine tosende Flut verwandelt. Erst auf den zweiten Blick sah Jocelin, dass die Brücke zerstört war. Nur die Uferpfeiler standen noch. Unschlüssig ritt er die Böschung entlang, dann drängte er sein Pferd ins Wasser. Das Tier scheute, bäumte sich auf, und hätte ihn fast abgeworfen. Nur mühsam gelang es Jocelin, das Pferd wieder zum Ufer zu lenken. Nein, da hindurch zureiten wäre Wahnsinn! Das bedeutete, dass er nach der nächsten Brücke suchen musste. Und… er würde Paris nicht mehr rechtzeitig erreichen...
König Philipp lag ruhig, aber er schlief nicht. Er hielt die schweren Damastvorhänge seines Bettes zur Seite und starrte auf das gegenüberliegende Fenster. In den bleigefassten Rundscheiben vervielfältigte sich das Mondlicht in grotesken Spiralen. Aber der König nahm sie nicht wahr. Seine Augen schienen nicht das Lichtspiel im Glas, sondern die Zukunft zu umfassen, während seine Gedanken durch die Vergangenheit streiften.
Er hörte wieder die stolze, spöttische Stimme Papst Bonifatius VIII.: “Ein Falschmünzer bist du, König von Frankreich!“
Er hörte das Geschrei einer wütenden Volksmenge: “Räuber, Betrüger!“
Ungeschwächt lebte der Aufstand der Pariser Bevölkerung in Philipps Erinnerung. Der Mob hatte den Palast stürmen wollen, Steine und Unrat waren geflogen. Im letzten Moment war Philipp damals die Flucht in die Templerfestung geglückt.
Nur mit einem Untergewand bekleidet hatte er vor dem Komtur gestanden und ihn um die Bezahlung von Soldaten zur Niederschlagung des Aufstandes angefleht. Was für ein demütigender Moment! Und bis jetzt hatte er dem Orden nicht einen Sous zurückerstattet. Die Staatskasse war so leer wie damals.
Und schon wieder murrte dass Volk über die Steuererhöhungen. Aber bald würde er, Philipp, mehr Gold besitzen als jeder andere Fürst der Christenheit! Gold, mit dem er seine Beamten entlohnen konnte, seine Gesetzeslehrer, all die Männer, die er in der Provinzverwaltung eingesetzt hatte, und die dem Wirrwarr in Recht und Gesetz ein Ende bereiten sollten. Den König durchströmte ein Gefühl seligen Glücks. Keine selbstherrlichen Barone würden die Ordnung des Landes mehr stören, keine kirchlichen Immunitäten mehr der Verfassungsreform im Wege stehen. Frankreich würde ein
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