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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne de Witt
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Gleich darauf hörte sie alle Fenster und Türen klappern. Irgendwo von Osten her ertönte ein leises Grollen wie von ferner Artillerie. Dann wurde aus dem Grollen ein Rumpeln, ein Schatten zog über die Sonne, und die Luft erbebte in einer eigentümlichen Weise, als Dutzende Druckwellen nacheinander den Berghang trafen.
    Erschrocken sprang sie auf, doch Herr Zeebrugge bedeutete ihr, sich zu beruhigen. »Es besteht keine Gefahr«, sagte er. »Ein solches Gerumpel werden Sie hier noch oft hören. Unser kleiner Blaaskaak ist schlechter Laune. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«
    Er führte sie hinaus auf die Seite der das ganze Haus umgebenden Veranda, die nach Osten blickte. Dort senkte sich der dicht begrünte Hang in ein breites, spärlich mit bunten Häusern besiedeltes Tal, in dem sich ein schlammiges Flüsschen zwischen Palmen und dichter, dunkelgrüner Vegetation dahinschlängelte. Auf der gegenüberliegenden Seite erhob sich ein hässlicher Fremdkörper zwischen den grünen Terrassen der Felder, ein kahler brauner Kegel mit einem Schlot, der wie ein abgebrochener Stockzahn aussah.
    Aus diesem Schlot fuhr wie ein Geist aus der Flasche eine breit gebauschte Dampfsäule empor. Als würde ein Regenschirm aufgespannt, begann sie sich, sobald sie eine gewisse Höhe erreicht hatte, zu entfalten, und was eben noch Dampf gewesen war, verwandelte sich zusehends in schwarzen Qualm. Sie türmte sich immer mächtiger über dem zackigen Schlot auf und nahm die Form eines Blumenkohls an, der unablässig neue Sprossen trieb. Im Inneren der Wolke zuckten Blitze. Die Luft wurde dick und graubraun wie Smog und kratzte bei jedem Atemzug in der Kehle.
    Anna Lisa drückte ihren Schal vor den Mund. »Haben Sie denn keine Angst, so nahe an einem aktiven Vulkan zu wohnen?«, fragte sie.
    Zeebrugge zuckte die Achseln. »Hatten Sie niemals Angst, in einer Stadt wie Hamburg zu wohnen, die regelmäßig von Spring- und Sturmfluten heimgesucht wird? Jeder Ort auf Erden hat seine Gefahren. Es gibt kein Paradies mehr. Und ein Vulkan, der alle naselang spuckt, ist im Grunde weniger gefährlich als einer, der täuschend still hält und im Inneren Hekatomben von glühendem Magma ansammelt. Wir nennen unseren Kleinen deshalb den Blaaskaak – das ist holländisch für Wichtigtuer, Aufschneider. Er rumpelt und spuckt, aber gefährlich war er noch nie.«
    Anna Lisa fühlte sich trotz dieser Zusicherung beklommen, als die Wolken aus heißem Staub sich ausbreiteten, das Tal querten und einen braunen Schleier über Zeebrugges Landgut breiteten. Er nahm eine der Laternen, die an den vorspringenden Dachsparren hingen, und zündete sie an. Wo ihre Strahlen hinfielen, sah man Staub wirbeln. Immer wieder rülpste der Krater einen neuerlichen Schwall Dampf und Qualm hervor, aber es war keine glühende Lava, die aus seinem Schlot quoll, sondern siedender Schlamm. Ein breiter Bach, über dem eine olivfarbene Wolke schwebte, schwappte träge die Terrassen hinunter, auf denen sich einst Reisfelder oder Teeplantagen befunden hatten. Unten im Tal angelangt, stockten seine ersten Ausläufer, und die nachfolgenden türmten sich darüber, sodass erst ein Wall und dann eine flache, unregelmäßige Treppe entstand. Als Anna Lisa genauer hinsah, wurde ihr bewusst, dass der unregelmäßige Talgrund zur Gänze aus solchen erkalteten und getrockneten Schlammlawinen bestand, in denen das allgegenwärtige Grün seine Wurzeln geschlagen hatte.
    Die Eruption dauerte nicht lange an. Eine Stunde später hatte sich der Blaaskaak wieder beruhigt, ein frischer Wind hatte den Smog vertrieben, nur der eigentümliche Geruch des erkaltenden Schlamms erinnerte noch an den Ausbruch. Edgar Zeebrugge schlug vor, sich auf den Heimweg zu machen.
    Als Anna Lisa am späten Nachmittag müde und verschwitzt von dem langen Ritt ins Hotel des Indes zurückkehrte, stellte sie fest, dass sie wenigstens eine ihrer Sorgen von der Liste streichen konnte. Simeons völlige Apathie am Morgen war wohl doch nur der Wirkung eines starken Schlafmittels zuzuschreiben gewesen. Sie fand ihn in seinen geblümten Morgenmantel gekleidet am Tisch sitzend vor, einen Korb mit fremdartigen bunten Blumen vor sich. Pahti stand neben ihm und nannte ihm die einheimischen Namen der Pflanzen, und Simeon war so vollauf damit beschäftigt, sie auswendig zu lernen, als hätte er nicht die geringsten anderen Sorgen.
    »Sieh her!«, rief er ihr entgegen. »Hast du schon einmal etwas derart Zauberhaftes gesehen?« Dabei streckte er

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