Die Traenen des Mangrovenbaums
Gelegenheit auf die Räuber zu stürzen. Nun, der Herr Räuberhauptmann ging einen anderen Weg. Er wandte sich an die Hausbesitzer und sagte: Los werdet ihr uns nicht mehr, dazu sind wir zu stark, aber wir wollen auch nicht, dass ihr uns andauernd in den Rücken fallt. Warum teilen wir uns das Haus nicht einfach? Das fanden die Söhne des Hausherrn keine so schlechte Lösung. Es war ja immerhin besser, unter dem Kommando eines Räuberhauptmanns einen Teil seiner Habe zu behalten, als in den wassergefüllten Kasematten des Stadthuis zu verrotten, wie es so vielen Aufrührern ergangen war. Das Stadthuis beherbergte übrigens das alte Rathaus, die Zitadelle und das Gefängnis in Batavia. In seinen knietief mit Wasser gefüllten Kasematten wurde seinerzeit der Prinz Diponegoro gefangen gehalten. Nun, außerdem war der Räuberhauptmann ein recht gewandter, diplomatischer Bursche, der sein Ansinnen in derart hübsche Worte fasste, dass die Söhne des Hausherrn sich zuletzt einbildeten, sie hätten bei dem Handel noch gewonnen.«
»Aber wie können Sie die Holländer mit Räubern vergleichen?«, rief Anna Lisa. »Ehrlich gesagt, ich verstehe nicht viel von Kolonialpolitik, dennoch – sie schleppen ja nicht einfach alles weg, sondern arbeiten fleißig auf ihren Plantagen …«
»Lassen Sie den Vergleich einmal stehen, bis ich Ihnen die Sache erklärt habe. Man schloss ein Abkommen, demzufolge die Räuber die Hausherrn-Söhne als ihre ›jüngeren Brüder‹ titulierten und diese die Räuber als ›ältere Brüder‹. Die einheimischen Fürsten behielten ihren Besitz, ja, sie gewannen noch einiges dazu; dafür erhielten die Eroberer das formale und juristische Recht der Herrschaft über die Insel. Nur widerwillig hatten sie sich nach den blutigen Aufständen bewegen lassen, ein zumindest nach außen hin duales Verwaltungssystem einzuführen, bei dem jedem Ausländer ein einheimischer Beamter in fast derselben Funktion zur Seite stand. Dem holländischen Statthalter entsprach der einheimische Regent, dem europäischen Kontrolleur der eingeborene Wedono. Dieses System, bei dem man den Knüttel der Unterdrückung immerhin in einer samtenen Hülle versteckte, funktionierte im Allgemeinen ganz gut, solange beide Seiten anerkannten, wo die wahre Macht lag. Aber gerade in diesem Punkt gab es Schwierigkeiten, sowohl mit den Fürsten selbst – was immerhin noch verständlich war – wie auch mit deren Untertanen, die eigensinnig darauf beharrten, von ihren eigenen Herren geknechtet und ausgebeutet zu werden, wie sie es seit Jahrhunderten gewohnt waren. Es war insofern ein unvergleichliches System, als dabei eigentlich der Geringere die Befehlsgewalt über den Vornehmeren hatte. Der europäische Beamte steht formal höher, er erteilt die Befehle. Tatsächlich aber ist der Europäer ein bloßer Beamter, leicht ersetzbar durch einen anderen aus seiner Klasse, während der Regent auf eine vielleicht vielhundertjährige Reihe von Ahnen zurückblicken kann und sich dessen auch bewusst ist.
Die Dummen bei alledem sind natürlich die einfachen Leute, die Bauern, Arbeiter und kleinen Händler, die jetzt von zwei Seiten zugleich ausgebeutet werden – so gnadenlos, dass es in den 1850er-Jahren in diesem überreichen Land zu Hungersnöten kam. Ja, Mevrouw! Damals sind ganze Distrikte ausgestorben durch den Hunger. Mütter boten ihre Kinder als Speise zum Kauf an. Mütter haben ihre Kinder gegessen …«
Anna Lisa stockte der Atem vor Grauen. Das konnte unmöglich wahr sein! Kolonialpolitik hin oder her, die Holländer waren doch zivilisierte Menschen, waren Christen, niemals hätten sie solchen Gräueln zugesehen, ohne einzuschreiten. »Das hat man doch nicht einfach geschehen lassen, oder?«, protestierte sie schwach.
»Wie man es nimmt. Ja, das Mutterland hat sich der Sache angenommen. Es wurde der Befehl erteilt, beim Gewinn von Kolonialwaren nicht wieder so gierig zu raffen, dass es zu einer weiteren Hungersnot käme. Schließlich kann ein Hungers gestorbener Bauer kein Land beackern, das hat sich bis nach Amsterdam herumgesprochen.«
Das Gespräch wurde jäh auf eine Weise unterbrochen, die Anna Lisa zu Tode erschreckte. Ein lautes Klirren ertönte, und als sie herumfuhr, in der Meinung, ein tollpatschiger Diener hätte einen Teller oder Krug fallen lassen, erkannte sie überrascht, dass sich niemand im Wohnzimmer befand außer ihnen beiden. Dennoch war ein Delfter Teller von seinem Wandbord gefallen und in Stücke zerbrochen.
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