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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne de Witt
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Dschinn ohne seinen rechtmäßigen Herrn zurückblieb, aber sie hatte ja Fräulein Bertram, und außerdem, was sollte ihr schon passieren? Setiawan würde sie hüten wie seinen Augapfel.
    Anna Lisa, die froh war, wenn ihr Gatte sich seiner Leidenschaft hingab und entsprechend heiter gestimmt war, beteuerte, dass es ihr nichts ausmachte. Sie verabschiedete sich mit einem zärtlichen Kuss von ihm, als er im Morgengrauen, lange vor dem Aufgang der mörderisch glühenden Sonne, in der Sänfte das Haus verließ. Mitte Juli war die Sonne hier in den Tropen ein Feind, dem man aus dem Weg gehen musste, wenn man von Sonnenstich und Hitzschlag verschont bleiben wollte. Drei von Setiawans Untergebenen begleiteten ihn, zwei Bewaffnete als Beschützer, der dritte als Läufer – gewissermaßen als Herold, wie es sich für den offiziellen Besuch eines bedeutenden Mannes gehörte. Dann kehrte sie ins Haus zurück und streckte sich im abgedunkelten Schlafzimmer noch einmal bequem auf dem Bett aus, um weiterzudösen.
    Der Tag verlief ereignislos und endete in einem prachtvollen Sonnenuntergang, einem sogenannten Hahnenschwanz, der sich vielfarbig über den westlichen Himmel auffächerte. Der kurzen tropischen Dämmerung folgte die Nacht. Anna Lisa vollzog mithilfe ihrer Zofe die langwierige Zeremonie des Auskleidens – sie wünschte wirklich, sie könnte sich auch einfach einen Sarong um die Hüften wickeln, statt sich Tag für Tag in die voluminösen europäischen Kleider zu quälen. Dabei hatte sie sich ohnehin schon einiges an Marscherleichterung verschafft und das Korsett stillschweigend beiseitegelassen, auch die Unterröcke waren weniger geworden; sie trug jetzt meistens nur einen knöchellangen Rock, eine Bluse und eine lange, lose Jacke darüber. Nur an den Knöpfstiefeln hielt sie eisern fest, eingedenk Pahtis Warnung vor Skorpionen und giftigen Tausendfüßlern, die allerorten herumwimmeln mochten. Sie wunderte sich, dass die Einheimischen keine Angst hatten, barfuß zu laufen, obwohl sie immer wieder gestochen wurden. Aber die Javaner waren Fatalisten: Ob man gestochen wurde oder nicht, lag in Gottes Hand, wozu also Schuhe anziehen?
    Anna Lisa schlüpfte in ihr Hauskleid, ein Nachthemd mit einem dazu passenden Morgenrock, denn bei der ständigen Betriebsamkeit im Haus war sie nie sicher, ob nicht auch auf dem Weg zum Bad oder Abort jemand auftauchen mochte, und dann wollte sie halbwegs korrekt gekleidet sein. Fräulein Bertram löste ihre Frisur auf, bürstete sie und flocht dann die langen Haare zu einem Zopf, damit sie sich beim Schlaf nicht verwirrten. Danach sagte man sich gute Nacht. Die Zofe verschwand in ihrem Zimmer, das neben dem der Herrin lag, und Anna Lisa schloss die Zwischentür.
    Es war gegen zehn Uhr abends und eigentlich Zeit zum Schlafengehen, aber Simeons ungewohnte Abwesenheit brachte sie durcheinander, sodass sie eine ganze Weile beim Licht der Öllampe saß und vor sich hin sinnierte. Dann löschte sie das Licht und trat auf den winzigen, vergitterten Balkon hinaus, der wie ein Vogelkäfig an der Hauswand vor ihrem Schlafzimmer hing. Überall im Haus war man bereits zu Bett gegangen, wie es aussah, denn kein Lichtstreifen fiel mehr aus den Fenstern. Das vom Vollmond beschienene Rund der Lichtung lag verlassen. Es war still, nur gelegentlich strich ein Windhauch durch das Laubwerk und erzeugte ein Rascheln, oder ein Tukan ließ, halb im Schlaf, ein zusammenhangloses Krächzen hören. Die wenigen Tiere, die zum Haushalt gehörten, einige Ochsen und eine Schar Ziegen, waren in der Obhut ihrer Ställe, denn bei Nacht schlichen der Tiger und der Leopard aus dem nachtschwarzen Dickicht und fielen über alles Lebendige her. Sie schauderte bei dem Gedanken, welche Gefahren außerhalb des sicheren Hauses lauerten. Da war eine Nacht so paradiesisch schön, mit einem tintenschwarzen Himmel, in dem ein chinesisch-weißer Mond schwebte, silberne Netze überspannen die Arabesken der fremdartigen Büsche und der grotesken Banyan-Bäume – und doch mochte es den Tod bedeuten, auch nur einen Spaziergang über den Rasen zu machen. Der Tiger witterte Menschenfleisch über weite Distanzen, und er war schnell.
    Sie fragte sich, wo Herr Raharjo in dieser Nacht sein mochte. Bei dem Gedanken an ihn bebte ihr Herz. Was half es, dass sie sich immer wieder Elsas Mahnung ins Gedächtnis rief? Was half ihr die Vernunft, die ihr sagte, dass sie besser keinen einzigen unkeuschen Gedanken an ihn verschwendete? Sie konnte ihn

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