Die Traenen des Mangrovenbaums
»Sache« ein Kind bekam, dann war es ja wohl auch ihre Sache – oder? Und überhaupt war es nicht angenehm, einer Nacht entgegenzugehen, in der ihr unheimliche, unbekannte, andeutungsweise unappetitliche und vielleicht sogar schmerzhafte Dinge angetan werden sollten. Wenigstens gewarnt wollte sie sein, wenn sie sich der Gefahr schon nicht entziehen konnte.
Dörte, die als Einzige schon verlobt war und sich viel darauf zugutetat, besser als alle anderen Bescheid zu wissen, fragte: »Hast du überhaupt schon einmal einen Mann nackt gesehen?«
»Gewiss, den Adam in der Bibel, wie er mit Eva und der Schlange unter dem Baum steht.« Trotz klang aus ihrer Stimme. Sie wusste ja genau, dass Dörte mit »nackt« nicht einen Mann mit einem Feigenblatt vor den Lenden gemeint hatte.
»Ohne Weinlaub, meine ich«, beharrte Dörte.
Anna Lisa schoss das Blut ins Gesicht. Tatsächlich hatte sie so etwas schon einmal gesehen, aber es war keine angenehme Erinnerung. Ein betrunkener Seemann hatte am helllichten Tag mitten auf dem Gänsemarkt an die Mauer gepisst, und bevor die entsetzte Elsa ihr noch die Augen zuhalten konnte, hatte sie das dicke, graugelbe Ding gesehen, das er in der Hand hielt. Nachher hatte sie geschworen, sie hätte gar nichts gesehen, aber es war ein kindlicher Meineid gewesen. Es war ihr entsetzlich peinlich gewesen, daran erinnert zu werden, dass Männer auf dieselbe Weise pissten wie Pferde und Hunde, sogar Männer wie ihre Brüder und ihr Vater, ja, der Herr Pfarrer persönlich!
»Ich will nichts davon hören«, protestierte sie und stand rasch auf. Die anderen lachten. Sie waren nach dem Gespräch in einer bösen, hitzigen Stimmung, und dass die frischgebackene Braut sich schämte, stachelte sie auf.
Dörte, deren Vater ebenfalls im Ostindien-Handel Geschäfte machte, bemerkte boshaft: »Vielleicht wirst du auch gar nicht viel davon hören. Die meisten weißen Männer in den Kolonien nehmen sich eine farbige Geliebte fürs Bett, denn die einheimischen Frauen sind schön, unterwürfig und anspruchslos. Ihre Ehefrauen brauchen sie nur, damit sie Kinder bekommen und die Familie repräsentieren.«
Dass viele Männer ihre Ehe nicht sonderlich wichtig nahmen, hatte sogar die naive Anna Lisa schon mitbekommen. Sie lebten für ihre Plantage, für die Armee, für ihr Schiff oder ihre Pferde. Soweit sie sich noch an ihre Mutter erinnern konnte, hatte diese immer sehr im Hintergrund gestanden. Elmer Lobrecht, der seine Schiffe mehr liebte als alle Frauen der Welt, hatte sich keine Geliebte gehalten, aber andere Männer taten es, obwohl sie am Sonntag breit auf ihren Plätzen in der Kirche saßen und fromme Gesichter machten.
In Java und anderen Kolonien, behauptete Dörte, galt es unter weißen Männern trotz der nach außen hin zur Schau getragenen kalvinistischen Frömmigkeit als durchaus akzeptabel, die Ehe zu brechen, solange man es mit einer Einheimischen tat und die farbige Geliebte nicht allzu aufdringlich in der Öffentlichkeit präsentierte. In Batavia, wo viele Chinesen lebten, gab es auch zahlreiche Beziehungen zwischen Holländern und asiatischen Frauen, aber sie blieben immer ohne kirchlichen und staatlichen Segen. Wozu hätte ein Mann sich an eine Frau binden sollen, die ihm nicht in sein heimatliches Holland folgen durfte? Denn obwohl die Einwohner Javas dem Gesetz nach Untertanen der holländischen Krone waren, durften sie deren Stammland nicht betreten. Da die Männer aber fleißig Kinder zeugten, gab es zahlreiche Mischlinge – in Batavia, darunter viele Mulatten, die Nachkommen von Europäern und den schwarzafrikanischen Sklaven der Portugiesen. Die jungen Männer unter diesen Mischlingen reisten häufig nach Europa, um dort zu studieren, und konnten es weit bringen. Die Töchter jedoch durften Batavia nicht verlassen. Sie bewegten sich auf einer sozialen Ebene mit den Sklaven und sprachen auch deren Sprachen, Portugiesisch und Malayalam. Ihre einzige Chance war die Hochzeit mit irgendeinem Händler oder Seemann der Vereenigde Oost-Indische Compagnie.
»Wenn du Pech hast«, verkündete Dörte, »endest du als snaar . Das sind Frauen, deren Männer für immer nach Holland zurückkehren und die Frauen praktisch als Witwen zurücklassen. Oft nehmen sie ihnen auch die Kinder weg.«
»Wie ungerecht!«, rief Georgina, die vom rebellischen Gedankengut der Frauenrechtlerinnen angekränkelt war. »Wenn die Männer es dürfen und die Frauen nicht!«
Die welterfahrene Dörte zuckte die Achseln. Es
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