Die Traenen des Mangrovenbaums
aber »auch ganz anders sein konnte«.
»Was meinte er damit?«, fragte Anna Lisa, während sie krampfhaft den Hals stillhielt, damit Mette eine symmetrische Frisur zustande brachte – eine volle, weiche Haarschnecke auf jeder Seite des Kopfes, die im Nacken zu einem Chignon verbunden wurden.
»Nun, er sagte, als er – der junge Herr – einmal dazukam, wie ein Mann seinen Hund trat, dass das arme Tier heulte und jaulte, da hätte er ihn mit dem Spazierstock ins Gesicht geschlagen. Ohne vorher ein Wort zu ihm zu sagen, einfach so. Mitten ins Gesicht, sodass er ihm die Nase brach und das Blut nur so herabrann. Und wenn er nicht der Sohn eines so bedeutenden Mannes wäre, dann hätte er es dafür mit dem Gericht zu tun bekommen, sagte der Kutscher, aber wie die Dinge standen, wagte der Kerl nicht zu murren. Er ist wie ein Maulesel, sagte der Kutscher, so sanft und still, dass man meint, man könne alles mit ihm machen, aber wenn er dir einmal einen Tritt verpasst, dann merkst du dir den. Verzeihung, Fräulein, aber das sagte der Kutscher, nicht ich.«
Anna Lisa wusste, dass sie Mette eigentlich für ihren Klatsch hätte zurechtweisen müssen. Es war schlechte Sitte, mit den Dienstboten über andere Menschen herzuziehen, schon gar solche der eigenen Klasse. Aber sie würde ja nicht mehr lange Mettes Herrin sein, und außerdem war sie brennend neugierig.
»Und den Hund«, fuhr Mette atemlos fort, »hat er damals mitgenommen, den hat er jetzt auch mit, und den müssen Sie erst einmal sehen, hoffentlich kriegen Sie keine Angst, so ein geflecktes Ungeheuer ist das.«
»Was? Ein gefleckter Hund – so wie Herbstlaub?«
»Ja, braun und schwarz und gelb gefleckt. Und so groß, dass er quer über den ganzen Teppich im Arbeitszimmer des gnädigen Herrn liegt.«
Das war zweifellos übertrieben, denn in dem Fall hätte das Tier gute fünf Meter lang sein müssen, aber sie empfand auch so einen leichten Schrecken bei der Vorstellung, dass dieser unheimliche Zerberus wohl der ständige Begleiter ihres Verlobten war. Wenn er ihn auf Brautschau mitnahm, nahm er ihn sicher auch überall anders hin mit. Im Hause Lobrecht hatte man keine Hunde gehalten, weil der Hausherr in ihrer Nähe immer zu husten und niesen anfing, daher wusste Anna Lisa recht wenig darüber, wie man mit diesen Tieren umging. Es sah ganz so aus, als müsste sie nicht nur über Männer noch einiges lernen.
Sie trat vor den Spiegel und betrachtete mit Wohlgefallen ihre eigene Erscheinung. Sie neigte nicht zu der Narretei vieler junger Mädchen, sich ständig selbst zu bekritteln. Dass sie angenehm aussah, ohne indes eine wirkliche Schönheit zu sein, wusste sie und akzeptierte es ohne Wenn und Aber.
»Ich bin doch schön genug für einen Kaffeehändler, Mette – was meinst du?«, wandte sie sich an das Mädchen.
»Oh, Fräulein, Sie wären schön genug für einen Diamantenhändler!«, rief Mette, die manchmal auf eine ganz eigene Weise poetisch sein konnte. »Alle zehn Finger kann er sich abschlecken, dass er jemand wie Sie bekommt! Übrigens sagte der Kutsch-…«
Anna Lisa erfuhr aber nicht mehr, was die neugierigen Dienstboten noch aus dem Kutscher herausgeholt hatten, denn da klopfte es an der Tür, und sie erhielt die erwartete Nachricht ihres Vaters, sie möge in sein Arbeitszimmer kommen.
Der feierliche Augenblick war da.
Im Arbeitszimmer erwarteten sie ihr Vater und ihr ältester Bruder, Carl Gustav, der bereits als Kompagnon der Firma angehörte und einiges mitzureden hatte. Auf dem Sofa saßen die beiden Holländer. Zu Füßen des Jüngeren lag, zusammengerollt, aber dennoch ganz und gar unübersehbar, der Fila Brasileiro, ein riesiger, unförmiger, faltiger Haufen leopardenfleckigen Fells. Seine bernsteingelben Augen musterten sie aufmerksam und argwöhnisch. Es musste ein kluges Tier sein, das genau wusste, wie bedeutsam sie für seinen Herrn war, auch wenn es natürlich die Situation nicht verstand.
Anna Lisa knickste. Den Kaffeehändler ignorierte sie, ihr erster Blick – unter wohlerzogen niedergeschlagenen Lidern hervor – galt seinem Sohn. Das Foto hatte nicht gelogen. Er sah sehr hübsch aus. Die hohe Gestalt, das weiche Haar, der gepflegte Bart, die schwermütigen Augen, alles war genau wie auf dem Lichtbild und doch in Wirklichkeit noch viel anziehender. Seine Bewegungen, als er bei ihrem Eintritt aufstand und sie mit einem leichten Neigen des Kopfes begrüßte, wirkten hölzern, aber schließlich war er nicht weniger
Weitere Kostenlose Bücher