Die Traenen des Mangrovenbaums
allem finanziell gut versorgten Frau nicht abgeneigt waren. Sie hatte auch bemerkt, dass seit Simeons Begräbnis mehrere dieser Herren auffallend oft ihren Vater besuchten.
Lobrecht zögerte, dann platzte er heraus: »Dr. Max Lutter. Er ist seit Kurzem in Hamburg, er hat mich aufgesucht, und im Gespräch mit mir ließ er durchblicken, dass er von allem Anfang an sehr viel für dich empfand. Als Mann von Ehre durfte er sich natürlich nichts davon anmerken lassen.«
Jetzt schoss ihr das Blut in die Wangen. Lutter! Das hatte sie nicht erwartet. Gewiss, sie schätzte ihn als Freund, aber durch seine Arbeit als Schiffsarzt war ihr Kontakt mit ihm sehr lose gewesen, und solange Simeon lebte, hatte er es wohl auch als unpassend empfunden, ein allzu inniges Verhältnis zu dessen Frau aufzubauen. Aber jetzt fiel ihr mit einem Schlag alles wieder ein: Wie er sich als Freund und Vertrauter erwiesen hatte, als sie sich so vollkommen ratlos fühlte, wie einfühlsam er ihre Sorgen um Simeons Wohlbefinden geteilt hatte – das Wohlbefinden des Mannes, auf den er insgeheim eifersüchtig war, dessen Gattin er heimlich begehrte! Wie eine warme Welle ging es über sie hin, als ein Kaleidoskop von Bildern in ihrer Erinnerung auftauchte: Spaziergänge mit Tietjens auf dem sonnenbeschienenen Deck, das grüne Büchlein mit den listigen Ratschlägen, seine Gesellschaft beim Essen an ihrem ersten Tag an Bord … Es waren angenehme Erinnerungen, und sie spürte, wie die Wolken der Melancholie, die sie seit Simeons Tod heimgesucht hatten, sich ein wenig lichteten.
Lobrecht missverstand das Erröten und Schweigen seiner Tochter. »Wenn du ihn auf keinen Fall haben möchtest, brauchen wir nicht weiter darüber zu reden. Ich respektiere deine Entscheidung.«
»Keine Rede davon! Ich war nur überrascht. Wir hatten einander weitgehend aus den Augen verloren. Er ist so viel unterwegs, dass wir nur alle paar Monate einmal einen Brief von ihm bekommen haben, und da stand nicht viel Bedeutsames drinnen.«
»Nun, du warst ein verheiratete Frau, da konnte er dir nicht gut sein Herz ausschütten. Aber jetzt bist du Witwe, und er wird in Zukunft nicht mehr zur See fahren, sondern hat eine Stelle im europäischen Hospital in Batavia angenommen. Das heißt, er ist sesshaft geworden und lebt in sehr behaglichen Umständen, wie ich mich überzeugen konnte.«
Anna Lisa unterdrückte ein Lächeln. Das sah ihrem Vater ähnlich, dass er sich vorsichtshalber einmal erkundigt hatte, wie es mit dem Geldsäckel des Bewerbers aussah.
»Nun?«, fragte Lobrecht rundheraus. »Was hältst du davon?«
»Ich bin einverstanden.«
Der Reeder atmete tief durch. Anna Lisa merkte ihm an, dass ihm eine Last vom Herzen fiel. Eine verwitwete Tochter war ein fast ebenso unbequemes Anhängsel in einem Haushalt wie eine ledige Tochter; man wusste nie, was man mit ihr anfangen sollte, zu welchen Einladungen man sie mitnehmen konnte und welche Unternehmungen passend waren. Und außerdem traf der Bibelvers zu: Wo ein Aas ist, sammeln sich die Geier.
Reiche Witwen übten eine magische Anziehungskraft auf dubiose Verehrer aus, und nichts wäre dem Vater unangenehmer gewesen, als wenn irgendein zwielichtiges Subjekt womöglich noch das Herz der Einsamen erobert hätte. Er war sehr zufrieden damit, dass sie Lutters Antrag auf der Stelle angenommen hatte, ohne Wenn und Aber. Gewiss, es gab Schwiegersöhne, die in der großbürgerlichen Gesellschaft mehr hermachten als ein Oberarzt am europäischen Hospital in Batavia, auch wenn er einen Adelstitel trug, aber der Beruf war anständig und angesehen, und man konnte davon leben. Herr Lobrecht hielt eisern an der Meinung fest, dass der Mann die Frau zu versorgen hatte, selbst wenn sie eine schwerreiche Erbin war.
»Ich bin froh, eine so vernünftige Tochter zu haben«, sagte er und ließ sich in seiner Erleichterung zu dem Gefühlsausbruch hinreißen, ihr die Schulter zu tätscheln.
Wenige Tage später wurde Dr. Max Lutters Besuch gemeldet. Anna Lisa fühlte ihr Herz klopfen, als sie die Treppe hinunterging in den kleinen Salon, in dem private Gäste empfangen wurden. So schön ihre Erinnerungen waren, jetzt bangte es sie doch ein wenig vor der Realität. Würde sie noch denselben Mann vorfinden, der damals an Bord der Anne-Kathrin mit ihr spazieren gegangen war? Natürlich war er gealtert, das allein machte ihr nichts aus, aber hatte er sich auch in anderer Weise verändert? Sie musste tief durchatmen, ehe sie den Mut aufbrachte,
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